Leitsatz (amtlich)
Das für Haftsachen geltende besondere Beschleunigungsgebot verliert durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils zwar nicht seine Bedeutung; Verzögerungen fallen aber nach Urteilserlass geringer ins Gewicht als vor diesem Zeitpunkt. Allerdings sind weiterhin die bereits vor Erlass des erstinstanzlichen Urteils eingetretenen Verzögerungen zu beachten.
Verfahrensgang
LG Frankenthal (Pfalz) (Entscheidung vom 02.08.2022; Aktenzeichen 7 Ks 5620 Js 9686/20 jug) |
Tenor
- Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Haftbefehl des Amtsgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 13.03.2020 (Az. ...) in Gestalt der Haftfortdauerentscheidung der 7. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 02.08.2022 aufgehoben.
- Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe
I.
Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache seit dem 13.03.2020 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 13.03.2020, Az. .., nunmehr in Gestalt der Haftfortdauerentscheidung im Urteil der 7. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 02.08.2022, in Untersuchungshaft.
Die Staatsanwaltschaft Frankenthal (Pfalz) erhob unter dem 27.07.2020 Anklage zur Jugendkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz). Die Anklageschrift, beim Landgericht am 10.08.2020 eingegangen, wurde dem Angeklagten, seiner ihn gesetzlich vertretenden Mutter und dem Pflichtverteidiger Rechtsanwalt ... aufgrund Verfügung des Vorsitzenden vom gleichen Tag zugestellt. Am 11.08.2020 wurden mit der Kanzlei des Verteidigers telefonisch Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung abgestimmt. Mit Beschluss vom 21.08.2020 ordnete der Vorsitzende der Jugendkammer Rechtsanwalt ... als weiteren Pflichtverteidiger bei. Mit Beschluss vom 07.09.2020 ließ die Jugendkammer die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren. Zugleich wurde der Haftbefehl nach Maßgabe der Anklageschrift und des Eröffnungsbeschlusses neu gefasst und Haftfortdauer angeordnet. Mit Verfügung vom 08.09.2020 bestimmte der Vorsitzende der Jugendkammer Termin zur Hauptverhandlung auf den 21.09.2020 sowie abgestimmte 13 Fortsetzungstermine bis 28.01.2021.
Die Hauptverhandlung fand schließlich zwischen dem 21.09.2020 und dem 02.08.2022 an insgesamt 57 Verhandlungstagen statt. Mit Urteil vom 02.08.2022 wurde der Angeklagte wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 10 Jahren verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Frankenthal legten Revision gegen das Urteil ein.
Der Angeklagte wendet sich mit seiner am 04.08.2022 erhobenen Beschwerde gegen die Haftfortdauerentscheidung unter Verweis auf eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes. Die Jugendkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
Obwohl gegen den Angeklagten aus den Gründen des nicht rechtskräftigen Urteils dringender Tatverdacht und zudem der Haftgrund der Fluchtgefahr sowie der Schwerkriminalität bestehen, sind der angefochtene Beschluss sowie der Haftbefehl dennoch aufzuheben, weil die Fortdauer der Untersuchungshaft wegen Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebotes unverhältnismäßig wäre (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich infolge vermeidbarer, dem Angeklagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen, die mit seinem u. a. im Rechtsstaatsprinzip verankerten Anspruch auf eine beschleunigte Aburteilung nicht mehr vereinbar sind, als unverhältnismäßig.
1.
a) Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2019 - 2 BvR 2429/18 -, Rn. 54 m.w.N., juris).
b) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Der Verfassungssatz verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr au...