Leitsatz (amtlich)
1. Zur Haftung des Arzneimittelherstellers für Gesundheitsschäden des Patienten nach der Einnahme des Medikaments "VIOXX", insbesondere zum Beweis des Ursachenzusammenhangs zwischen der Einnahme des Arzneimittels und dem Gesundheitsschaden (hier: Herzinfarkt).
2. An die Darlegungslast des Patienten dürfen keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Das Gericht ist grundsätzlich gehalten,
a) dem Antrag auf Beiziehung von Krankenunterlagen stattzugeben (kein unzulässiger Beweisermittlungsantrag);
b) medizinische und pharmakologische Fragen nicht ohne sachverständige Beratung zu beurteilen. Dies gilt insbesondere für den bestimmungsgemäßen Gebrauch des Medikaments, die Auswertung von Studien zu den Auswirkungen der Einnahme des Medikaments und zur Bewertung der persönlichen Risikofaktoren des Patienten.
Normenkette
BGB § 823; AMG § 84; ZPO § 538 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
LG Frankenthal (Pfalz) (Urteil vom 18.09.2009; Aktenzeichen 6 O 276/08) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des LG Frankenthal (Pfalz) vom 18.9.2009 einschließlich des zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben.
II. Der Rechtsstreit wird an die 6. Zivilkammer des LG Frankenthal (Pfalz) zurückverwiesen.
III. Dem LG Frankenthal wird auch die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens übertragen.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Beklagte vertrieb seit der Zulassung am 19.11.1999 das Medikament VIOXX, ein nicht-steroidales Antirheumatikum (NSAR; Wirkstoff: Rofecoxib), welches nach Vorlage der sog. APPROVe-Studie Ende September 2004 freiwillig vom Markt genommen wurde.
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Einnahme von VIOXX auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden in Anspruch.
Dem 1956 geborenen Kläger wurde nach operativem Eingriff an der Halswirbelsäule wegen eines Bandscheibenvorfalls im Bereich C6/C7 das Medikament VIOXX 12,5 mg wie folgt verordnet:
am 23.10.2003: |
50 Tabletten, |
am 16.1.2004: |
30 Tabletten, |
am 13.2.2004: |
90 Tabletten und |
am 26.8.2004: |
90 Tabletten. |
Am 28.10.2005 erlitt der Kläger einen Herzinfarkt, der am 31.10.2005 operativ versorgt wurde. Der Kläger musste sich anschließend einer Reha-Maßnahme unterziehen.
Der Kläger hat geltend gemacht, der Herzinfarkt sei auf die Einnahme von VIOXX zurückzuführen.
Er habe das Medikament regelmäßig und täglich eingenommen. Ab Februar 2004 habe er sich an 112 Tagen in einer Reha-Maßnahme befunden und die VIOXX-Tabletten dort - zusätzlich zu den ihm verordneten - erhalten.
Auch wenn in seinem Fall das Medikament nicht zur Behandlung einer Arthrose oder einer rheumatoiden Arthritis angewandt worden sei, sei die Verordnung indiziert gewesen. Andere Risikoursachen für einen Herzinfarkt lägen nicht vor. Die Einnahmedauer von rund einem Jahr sei ausreichend, die Zeitdauer zwischen dem Absetzen des Medikaments und dem Herzinfarkt sprächen nicht gegen die Ursächlichkeit von VIOXX.
Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn
1. ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, welches in das Ermessen des Gerichts gestellt werde, mindestens jedoch 140.000 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.5.2007;
2. Schadenersatz (Verdienstausfall) i.H.v. 17.008,01 EUR für das Jahr 2006 sowie 22.770,63 EUR für das Jahr 2007, nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über den jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag von 17.008,01 EUR seit dem 15.5.2007 sowie aus einem Betrag von 22.700,63 EUR seit Rechtshängigkeit zu zahlen; Schadenersatz (außergerichtliche Anwaltskosten) i.H.v. 3745,88 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.5.2007 zu zahlen;
3. eine Geldrente (Verdienstausfallschaden) i.H.v. 30.385,01 EUR jährlich, beginnend ab 2008 bis zur Vollendung seines 67. Lebensjahres zu zahlen;
4. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche weiteren zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, welche ihm aus der Medikamenteneinnahme VIOXX entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Die Beklagte ist den Klageanträgen entgegengetreten.
Der Kläger habe VIOXX nicht bestimmungsgemäß gebraucht. Die Einnahme sei beim Kläger zudem wegen der Gefahr von Magen- und/oder Darmgeschwüren kontraindiziert gewesen. Er habe VIOXX nicht regelmäßig und nicht länger als 18 Monate eingenommen, weshalb eine Risikoerhöhung für einen Herzinfarkt hierdurch nicht eingetreten sei. Vielmehr hätten beim Kläger sonstige cardiovasculäre Risikofaktoren vorgelegen.
Der Einzelrichter des LG hat die Klage ohne Durchführung einer Beweisaufnahme abgewiesen.
Dem Kläger stehe weder aus § 84 Abs. 1 Satz 1 AMG noch aus §§ 823 Abs. 1, 823 Abs. 2 i.V.m. § 5 Abs. 2 AMG ein Anspruch zu. Auf der Grundlage der herrschenden Meinung zum Off-Label-Use liege kein b...