Detlef Burhoff, Annika Hirsch
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Nach der Generalklausel des § 140 Abs. 2 ist ein Pflichtverteidiger u.a. dann beizuordnen, wenn das wegen der Schwere der Tat oder der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten erscheint. |
2. |
Primär ausschlaggebend ist die Höhe der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe. Liegt diese bei mindestens einem Jahr, ist ein Verteidiger zu bestellen. |
3. |
Neben der reinen Straferwartung ist auch das dem Beschuldigten drohende Gesamtstrafübel in den Blick zu nehmen. Dieses kann die Mitwirkung eines Verteidigers auch dann notwendig machen, wenn die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe weniger als ein Jahr beträgt. |
Rdn 3599
Literaturhinweise:
Böß, Das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, NStZ 2020, 185
Friedt, Pflichtverteidigung erst bei einer Straferwartung von mindestens einem Jahr?, StraFo 1997, 236
Hillenbrand, Die notwendige Verteidigung gem. § 140 StPO im Strafverfahren vor dem Amtsgericht – Teil 1, StRR 2014, 4
ders., Das neue Recht der Pflichtverteidigung, StRR 2/2020, 4
Müller-Jacobsen, Das neue Recht der notwendigen Verteidigung, NJW 2020, 575
Ostendorf, Die Pflichtverteidigung in Jugendstrafverfahren, StV 1986, 308
Rieß, Das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege – ein Überblick, AnwBl 1993, 51
Strate, Pflichtverteidigung bei Ausländern, StV 1981, 46
s.a. die Hinw. bei → Pflichtverteidiger, Allgemeines, Teil P Rdn 3420.
Rdn 3600
1. Nach der Generalklausel des § 140 Abs. 2 ist ein Pflichtverteidiger u.a. dann beizuordnen, wenn das wegen der "Schwere der Tat" oder "der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge" geboten erscheint. Diese Generalklausel hat die Funktion eines Auffangtatbestandes und greift insbesondere in Strafsachen wegen Vergehen, die voraussichtlich vor dem Strafrichter am AG verhandelt werden (ist dagegen zu erwarten, dass die HV mindestens vor dem Schöffengericht stattfindet, gilt § 140 Abs. 1 Nr. 1, → Pflichtverteidiger, Beiordnung nach § 140 Abs. 1, Teil P Rdn 3514). Die zu erwartende Rechtsfolge ist erst seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung v. 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) am 13.12.2019 im Gesetz ausdrücklich erwähnt, zuvor war lediglich die "Schwere der Tat" aufgeführt. Zu wesentlichen praktischen Veränderungen hat diese Neuregelung indes nicht geführt, denn die Rspr. hatte bereits zuvor den Rechtsbegriff der "Schwere der Tat" maßgeblich mit Blick auf die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung interpretiert (Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn 23 m.w.N), die Straferwartung war also schon vor der Reform das für die Verteidigerbestellung maßgebliche Kriterium. Überdies wird, wenn die zu erwartende Rechtsfolge schwer i.S.d. § 140 Abs. 2 ist, regelmäßig auch die zugrundeliegende Tat selbst schwer sein. Die beiden Beiordnungsgründe werden deshalb in der Folge zusammen dargestellt.
Rdn 3601
2.a) Primär ausschlaggebend für die Frage, ob die Schwere der Tat/der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig macht, ist die Höhe der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe. Liegt diese bei mindestens einem Jahr, ist ein Verteidiger zu bestellen.
☆ Wird die Beiordnung erst im Revisionsverfahren beantragt, verspricht ein Abstellen auf die Höhe der in der Vorinstanz verhängten Strafe allerdings keinen Erfolg. Auf die Schwere der Tat/die Höhe der Strafe wird von den Obergerichten im Revisionsverfahren nämlich nicht abgehoben, weil das Revisionsgericht an die Feststellungen im Urteil gebunden ist (KG, Beschl. v. 14.7.2010 – 4 Ws 77–78/10; noch BGHSt 19, 258). Es kann aber die Bestellung eines Verteidigers erforderlich sein, wenn die Revisionsbegründung besondere Schwierigkeiten bereitet (KG, a.a.O.).Revisionsverfahren nämlich nicht abgehoben, weil das Revisionsgericht an die Feststellungen im Urteil gebunden ist (KG, Beschl. v. 14.7.2010 – 4 Ws 77–78/10; noch BGHSt 19, 258). Es kann aber die Bestellung eines Verteidigers erforderlich sein, wenn die Revisionsbegründung besondere Schwierigkeiten bereitet (KG, a.a.O.).
Rdn 3602
aa) Die "Jahresgrenze" entspricht seit vielen Jahren gefestigter Rspr. (BayObLG, Beschl. v. 25.11.2021 – 202 StRR 132/21, NStZ 2022, 381; KG StV 2018, 144 [Ls.]; VRS 111, 193 ["um ein Jahr"]; NStZ-RR 2013, 166; Beschl. v. 13.12.2018 – 3 Ws 290/18; OLG Dresden NJW 2005, 3655 [Ls.]; OLG Hamm StraFo 2001, 137; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.7.2022 – 2 Ws 183/22; OLG München NJW 2006, 789; OLG Naumburg StraFo 2011, 517; StV 2013, 433; OLG Saarbrücken StRR 2014, 145; OLG Stuttgart NStZ-RR 2012, 214; LG Arnsberg, Beschl. v. 7.5.2024 – 6 Qs 26/24; LG Braunschweig, Beschl. v. 20.8.2020 – 9 Qs 159/20; LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 27.8.2020 – 3 Qs 296 Js 12711/19 (121/20); LG Gera StraFo 1999, 308; LG Halle, Beschl. v. 9.9.2021 – 3 Qs 93/20; LG Koblenz StV 2009, 237 [Ls.]; LG Neubrandenburg, Beschl. v. 10.10.2023 – 23 Qs 110/23; LG Oldenburg, Beschl. v. 17.8.2023 – 4 Qs 252/23; LG Zweibrücken VRS 112, 270; Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn 23a m.w.N. ["in ...