Detlef Burhoff, Annika Hirsch
Rdn 3766
Literaturhinweise:
Ahmed, Praxisprobleme beim Pflichtverteidiger – Ein Appell an den Gesetzgeber, Richter und Strafverteidiger, StV 2015, 65
Allgayer, Vertretung bei Einlegung sowie Begründung von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen, NStZ 2016, 192
Barton, Verteidigerfehler und deren Korrektur, StraFo 2015, 315
Böhm, Die Beendigung der Pflichtverteidigerbestellung nach der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, StV 2021, 196
Jahn, Das Zivilrecht der Pflichtverteidigung, JR 1999, 1
Hillenbrand, "Herr Pflichtverteidiger, Sie sind gefeuert!" – Aufhebung der Bestellung wegen grober Pflichtverletzung (OLG Celle, Beschl. v. 2.5.2023 – 5 StS 2/22), StRR 9/2023, 6
Münchhalffen, Rechtliche und tatsächliche Benachteiligungen des Pflichtverteidigers gegenüber dem Wahlverteidiger, StraFo 1997, 230
s.a. die Hinw. bei → Pflichtverteidiger, Allgemeines, Teil P Rdn 3419.
Rdn 3767
1.a) Der Pflichtverteidiger ist kein "Verteidiger zweiter Klasse" (BGHSt 47, 68; Böhm StV 2021, 196). Er hat vielmehr die gleichen Rechte und Pflichten wie der Wahlverteidiger. Ebenso wie dieser ist er neben der StA und neben dem Gericht gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege (s. zuletzt BVerfG NJW 1984, 2341 m.w.N.; KK/Willnow, vor § 137 Rn 5 m.w.N.; Ahmed StV 2015, 65, 66; → Verteidiger, Begriff, Teil V Rdn 5111). Auch ist der Pflichtverteidiger, ebenso wie der Wahlverteidiger, nicht Vertreter, sondern Beistand des Beschuldigten (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.6.2021 – 3 Ws 200/21). Dies ist insbesondere zu berücksichtigen, wenn der Beschuldigte einen Verteidigerwechsel anstrebt; hierfür reichen bloße Unstimmigkeiten über die Verteidigungsstrategie nicht aus (OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 28.7.2020 – 5–2 StE 1/20–5a – 3/205; → Pflichtverteidiger, Entpflichtung/Verteidigerwechsel, Teil P Rdn 3642). Auch entscheidet der beigeordnete Rechtsanwalt grds. nach eigenem Ermessen, in welchem Umfang er ein Rechtsmittel begründet (BGH, Beschl. v. 5.12.2022 – 5 StR 429/22) oder ob er im Revisionsverfahren von der Stellungnahmemöglichkeit des § 349 Abs. 3 S. 2 Gebrauch macht (BGH, Beschl. v. 14.11.2023 – 4 StR 239/23, NStZ-RR 2024, 24). Zudem ist der Pflichtverteidiger nicht gehalten, von ihm nach eigenverantwortlicher Einschätzung der Sach- und Rechtslage für aussichtslos oder sachfremd erachtete Anträge und Rechtsbehelfe zu stellen bzw. einzulegen (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.6.2021 – 3 Ws 200/21).
Rdn 3768
b) Mit der Beiordnung entsteht die öffentlich-rechtliche Pflicht des Verteidigers, bei der (ordnungsgemäßen) Durchführung des Verfahrens – insbesondere in der HV – durch (sachdienliche) Verteidigung des Angeklagten mitzuwirken (u.a. OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 1997, 77; eingehend auch OLG Hamburg NJW 1998, 621; Meyer-Goßner/Schmitt, § 142 Rn 59 m.w.N.; → Pflichtverteidiger, Wirkung der Beiordnung, Teil P Rdn 3825; zur Haftung des Pflichtverteidigers bei (Frist-)Versäumnissen → Verteidiger, Haftung, Teil V Rdn 5157; s.a. Barton StraFo 2015, 315). Die Bestellung zum Pflichtverteidiger begründet als solche aber keine (zusätzlichen) Berufspflichten, die über die allgemeine Stellung des Verteidigers als "unabhängiges Organ der Rechtspflege" i.S.v. § 1 BRAO hinausgehen (zur Stellung des Pflichtverteidigers krit. Münchhalffen StraFo 1997, 231; dazu auch Jahn JR 1999, 3 f., der – entgegen der h.M. – die Pflichtverteidigerstellung als über das Recht der zivilrechtlichen Stellvertretung begründet ansieht; ähnlich LR-Jahn, vor § 137 Rn 56 ff.).
☆ Der Rechtsanwalt ist zur Übernahme der Pflichtverteidigung verpflichtet . Er kann nur aus wichtigem Grund nach den §§ 48 Abs. 2, 49 Abs. 2 BRAO oder im Sonderfall des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Befreiung verlangen (→ Pflichtverteidiger, Wirkung der Beiordnung , Teil P Rdn 3829 ; → Pflichtverteidiger, Entpflichtung/Verteidigerwechsel, Teil P Rdn 3642 ).Rechtsanwalt ist zur Übernahme der Pflichtverteidigung verpflichtet. Er kann nur aus wichtigem Grund nach den §§ 48 Abs. 2, 49 Abs. 2 BRAO oder im Sonderfall des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Befreiung verlangen (→ Pflichtverteidiger, Wirkung der Beiordnung, Teil P Rdn 3829; → Pflichtverteidiger, Entpflichtung/Verteidigerwechsel, Teil P Rdn 3642).
Rdn 3769
c)aa) Als unabhängiges Organ der Rechtspflege unterliegt der Pflichtverteidiger nicht der Kontrolle des Gerichts (BVerfG NJW 1983, 1535; zuletzt BGH StRR 2008, 24, insoweit nicht in NStZ 2008, 231; KG StRR 2013, 402 [Ls.]). Eine Rücknahme der Bestellung kommt daher grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen der §§ 143, 143a in Betracht (→ Pflichtverteidiger, Entpflichtung/Verteidigerwechsel, Teil P Rdn 3642) und darf nicht darauf gestützt werden, dass der Pflichtverteidiger gegen gesetzlich nicht vorgesehene, sondern vom Gericht aus seiner "Stellung als Pflichtverteidiger" abgeleitete (vermeintliche) Pflichten verstoßen hat (Hillenbrand StRR 9/2023, 6).
Rdn 3770
bb) Versäumnisse eines Pflichtverteidigers können dem Staat allerdings nur ausnahmsweise angelastet werden, für Behörden und Gerichte besteht eine Verpf...