Detlef Burhoff, Annika Hirsch
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Im Strafbefehlsverfahren ist dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Richter erwägt, einen Strafbefehl zu erlassen, der eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr bei Strafaussetzung zur Bewährung vorsieht. |
2. |
Im beschleunigten Verfahren vor dem Amtsgericht ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten zu erwarten ist. |
3. |
Bei richterlichen Vernehmungen im EV, z.B. eines zentralen Belastungszeugen, gilt § 140 Abs. 1 Nr. 10. |
4. |
Im Verfahren über den Ausschluss des Verteidigers kommt nach § 138c Abs. 3 S. 4 ebenfalls eine Pflichtverteidigerbestellung in Betracht. |
5. |
Wird die HV nach vorsätzlich herbeigeführter Verhandlungsunfähigkeit fortgesetzt, ist dem Angeklagten nach § 231a Abs. 4 ein Pflichtverteidiger zu bestellen. |
6. |
Auch im Fall einer sog. Kontaktsperre muss dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden. |
Rdn 3477
Literaturhinweise:
Deckers/Kuschnik, Darf trotz Abwesenheit und Unkenntnis des Angeklagten nach § 408a StPO von der Hauptverhandlung in das Strafbefehlsverfahren gewechselt werden?, StraFo 2008, 418
Jaklin, Die zeitnahe richterliche Vernehmung der Geschädigten bei Verdacht auf häusliche Gewalt, NStZ 2021, 70
s.a. die Hinw. bei → Pflichtverteidiger, Allgemeines, Teil P Rdn 3420, und bei → Strafbefehlsverfahren, Teil S Rdn 4383.
Rdn 3478
Die StPO sieht über die in § 140 Abs. 1 und in der Generalklausel des § 140 Abs. 2 genannten Konstellationen hinaus in folgenden sonstigen Fällen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers vor:
Rdn 3479
1.a) Im → Strafbefehlsverfahren, Teil S Rdn 4382, ist dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Richter erwägt, einem Antrag der StA auf Erlass eines Strafbefehls mit der in § 407 Abs. 2 S. 2 genannten Rechtsfolge, also einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bei Strafaussetzung zur Bewährung, zu entsprechen. Wenn es sich bei dem Beschuldigten um einen Heranwachsenden handelt, kommt die Festsetzung einer Freiheitsstrafe im Strafbefehlswege dagegen nicht in Betracht (§ 109 Abs. 3 JGG), und gegen Jugendliche darf generell kein Strafbefehl erlassen werden (§79 Abs. 1 JGG).
Rdn 3480
b) Für das Bestellungsverfahren und die Auswahl des Pflichtverteidigers (→ Pflichtverteidiger, Verfahren der Beiordnung, Teil P Rdn 3794; → Pflichtverteidiger, Auswahl des Verteidigers, Teil P Rdn 3429) gelten die allgemeinen Regelungen des § 142. Der frühere § 408b S. 2, der lediglich auf § 141 Abs. 3 a.F., verwies, nicht aber auf die übrigen Vorschriften zum Beiordnungsverfahren, wurde durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) gestrichen. Hieraus ergibt sich die volle Anwendbarkeit der §§ 141 f. (BT-Drucks. 19/13829, S. 52).
☆ Dies hat insbesondere zur Folge, dass dem Beschuldigten auch im Strafbefehlsverfahren Gelegenheit gegeben werden muss, selbst einen Verteidiger zu benennen . Die früher vertretene Auffassung, wonach aufgrund des Fehlens einer entsprechenden Verweisung § 142 nicht zur Anwendung komme (zur früheren Rechtslage Lutz , NStZ 1998, 395 f.), ist aufgrund der Neuregelung überholt . Dem Beschuldigten muss daher auch im Zusammenhang mit dem Erlass eines Strafbefehls, der eine Bewährungsstrafe als Rechtsfolge vorsieht, die Möglichkeit zur Beratung durch den Verteidiger seines Vertrauens gewährleistet werden (BT-Drucks. 19/13829, S. 52).Gelegenheit gegeben werden muss, selbst einen Verteidiger zu benennen. Die früher vertretene Auffassung, wonach aufgrund des Fehlens einer entsprechenden Verweisung § 142 nicht zur Anwendung komme (zur früheren Rechtslage Lutz, NStZ 1998, 395 f.), ist aufgrund der Neuregelung überholt. Dem Beschuldigten muss daher auch im Zusammenhang mit dem Erlass eines Strafbefehls, der eine Bewährungsstrafe als Rechtsfolge vorsieht, die Möglichkeit zur Beratung durch den Verteidiger seines Vertrauens gewährleistet werden (BT-Drucks. 19/13829, S. 52).
Rdn 3481
c)aa) Auch die frühere Streitfrage, wie lange der nach § 408b bestellte Verteidiger im Verfahren bleibt, wurde durch die Reform 2019 erledigt. Es gilt nunmehr insoweit die allgemeine Regelung des § 143 Abs. 1 und Abs. 2. Dies bedeutet für den Fall des antragsgemäßen Erlasses des Strafbefehls, dass die Beiordnung endet, wenn dieser vom Beschuldigten akzeptiert wird und in Rechtskraft erwächst (BT-Drucks. 19/13829, S. 52).
Rdn 3482
bb) Legt der Beschuldigte dagegen Einspruch ein und kommt es zur Hauptverhandlung, gilt Folgendes: Ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe von (mindestens) einem Jahr zu erwarten, dauert die Bestellung fort, es ist dann die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 2 aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge (→ Pflichtverteidiger, Beiordnung wegen Schwere der Tat/Rechtsfolge, Teil P Rdn 3598) notwendig. Ist hingegen eine darunter liegende Freiheitsstrafe zu erwarten, so kann die Bestellung nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts aufgeh...