Detlef Burhoff, Annika Hirsch
Rdn 3565
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Pflichtverteidiger, Allgemeines, Teil P Rdn 3419.
Rdn 3566
1. Die StPO sieht verschiedene Gründe für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers vor. Zentralvorschrift ist § 140, der in etwa folgender Reihenfolge geprüft werden sollte:
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§ 140 Abs. 1 zählt elf Fälle notwendiger Verteidigung auf (→ Pflichtverteidiger, Beiordnung nach § 140 Abs. 1, Teil P Rdn 3514). Von besonderer Bedeutung aus diesem Katalog sind neben der Nr. 1 (zu erwartende HV vor dem Schöffengericht oder höher) und Nr. 2 (Verbrechensverdacht) insbesondere Nr. 4 und Nr. 5 (→ Pflichtverteidiger, Beiordnung wegen Vorführung/Inhaftierung des Beschuldigten, Teil P Rdn 3575). |
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Bei einer Zuständigkeit des Strafrichters am AG ist zu prüfen, ob nicht die Generalklausel des § 140 Abs. 2 greift. Hiernach ist ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn das geboten ist
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wegen der Schwere der Tat oder der zu erwartenden Rechtsfolge (→ Pflichtverteidiger, Beiordnung wegen Schwere der Tat/Rechtsfolge, Teil P Rdn 3598), |
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wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (→ Pflichtverteidiger, Beiordnung wegen Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage, Teil P Rdn 3611;) oder |
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weil der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann (Pflichtverteidiger, Beiordnung wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung, Teil P Rdn 3633; → Pflichtverteidiger, Beiordnung bei einem Ausländer, Teil P Rdn 3466). ☆ Über die in § 140 Abs. 2 genannten Voraussetzungen hinaus ist die Bestellung eines Verteidigers nach der Rspr. des BVerfG von Verfassungs wegen stets dann erforderlich, wenn seine Mitwirkung aus sonstigen Gründen rechtsstaatlich geboten ist (BVerfG, Beschl. v. 26.8.2008 – 2 BvR 335/08 m.w.N. für das Vollstreckungsverfahren; auch Beschl. v. 5.10.2020 – 2 BvR 554/20, StV 2021, 213). Dies ist nach dem BVerfG insbesondere dann anzunehmen, wenn die Würdigung aller Umstände das Vorliegen eines schwerwiegenden Falles ergibt und der Beschuldigte die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag (BVerfG NJW 1983, 1599 m.w.N.). Angesichts der mittlerweile recht zahlreichen gesetzlich geregelten Beiordnungsgründe und der umfangreichen Rspr. insbesondere zu § 140 Abs. 2 dürfte es praktisch allerdings kaum einmal vorkommen, dass ein Beiordnungsgrund direkt aus der Verfassung abgeleitet werden kann/muss. die in § 140 Abs. 2 genannten Voraussetzungen hinaus ist die Bestellung eines Verteidigers nach der Rspr. des BVerfG von Verfassungs wegen stets dann erforderlich, wenn seine Mitwirkung aus sonstigen Gründen rechtsstaatlich geboten ist (BVerfG, Beschl. v. 26.8.2008 – 2 BvR 335/08 m.w.N. für das Vollstreckungsverfahren; auch Beschl. v. 5.10.2020 – 2 BvR 554/20, StV 2021, 213). Dies ist nach dem BVerfG insbesondere dann anzunehmen, wenn die Würdigung aller Umstände das Vorliegen eines "schwerwiegenden Falles" ergibt und der Beschuldigte die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag (BVerfG NJW 1983, 1599 m.w.N.). Angesichts der mittlerweile recht zahlreichen gesetzlich geregelten Beiordnungsgründe und der umfangreichen Rspr. insbesondere zu § 140 Abs. 2 dürfte es praktisch allerdings kaum einmal vorkommen, dass ein Beiordnungsgrund direkt aus der Verfassung abgeleitet werden kann/muss. |
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Rdn 3567
2. Darüber hinaus kann in bestimmten im Gesetz aufgezählten Fällen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in Betracht kommen (→ Pflichtverteidiger, Beiordnung in sonstigen Fällen, Teil P Rdn 3476):
Rdn 3568
a) So ist im Strafbefehlsverfahren (Teil S Rdn 4382) gem. § 408b ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn das Gericht erwägt, einem entsprechenden Antrag der StA nachzukommen und per Strafbefehl eine Bewährungsstrafe von bis zu einem Jahr zu verhängen. Für Auswahl und Bestellung des Pflichtverteidigers gelten die allgemeinen Regeln, §§ 141 ff. (→ Pflichtverteidiger, Beiordnung in sonstigen Fällen, Teil P Rdn 3476).
Rdn 3569
b) Einen besonderen Fall regelt auch § 418 Abs. 4. Danach ist, wenn im beschleunigten Verfahren vor dem Amtsgericht eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten zu erwarten ist, dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger beizuordnen (→ Beschleunigtes Verfahren, Teil P Rdn 1143). Die Beiordnung gilt nach h.M. nicht für das Berufungsverfahren (Teil P Rdn 1147).
Rdn 3570
c) Die Beiordnung wegen richterlicher Vernehmung ist seit der Reform des Beiordnungsrechts 2019 in § 140 Abs. 1 Nr. 10 geregelt. Die bis dahin geltende Regelung des § 141 Abs. 3 S. 4 a.F. wurde insoweit in den Katalog des § 140 überführt (wegen der Einzelh. → Pflichtverteidiger, Beiordnung wegen richterlicher Vernehmung, Teil P Rdn 3594 und → Pflichtverteidiger, Beiordnung nach § 140 Abs. 1, Teil P Rdn 3517). Ersatzlos gestrichen wurde hingegen die frühere Sonderregelung für die mündliche Haftprüfung in § 118 Abs. 2 S. 4 bis a.F., nachdem einem inhaftierten Beschuldigten bereits nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 ein Verteidiger zu bestellen ist und es einer gesonderten Vorschrift für die mündliche Haftprüf...