a) Bedeutung
Rz. 101
Ob und in welchem Umfang ein Ehegatte nach der Ehescheidung Unterhalt von dem anderen Ehegatten verlangen kann, hängt nicht nur von der Bedürftigkeit und der Leistungsfähigkeit der Ehegatten ab, sondern auch von dem Verschulden an der Zerrüttung der Ehe:
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Der Ehegatte, der allein schuldig an der Zerrüttung der Ehe ist, hat keinen Anspruch auf Unterhalt, selbst wenn er bedürftig ist (Art. 60 § 1 FVGB). |
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Trifft die Schuld an der Zerrüttung der ehelichen Gemeinschaft ausschließlich denjenigen Ehegatten, von dem Unterhalt begehrt wird, so besteht ein privilegierter Anspruch auf Unterhalt (Art. 60 § 2 FVGB). |
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Sind beide Ehegatten an der Zerrüttung der ehelichen Gemeinschaft schuld, so kann jeder von ihnen gegen den anderen einen Anspruch auf Unterhalt geltend machen (einfacher Unterhalt, Art. 60 § 1 FVGB). |
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Ist kein Ehegatte an der Zerrüttung schuld, so kann jeder von ihnen gegen den anderen einen Anspruch auf Unterhalt geltend machen (einfacher Unterhalt, Art. 60 § 1 FVGB). |
b) Der einfache Anspruch gegen den nicht alleinschuldigen Ehegatten
Rz. 102
Ist weder der Anspruchsteller noch der Anspruchsgegner alleinschuldig an der Zerrüttung der Ehe, so kann der Anspruchsteller Unterhalt verlangen, wenn er bedürftig und der Anspruchsgegner leistungsfähig ist (Art. 60 § 1 FVGB).
Rz. 103
Bedürftig ist, wer seine elementaren Bedürfnisse aus eigenen Kräften und Mitteln nicht befriedigen kann. Die elementaren Bedürfnisse orientieren sich nicht an dem Lebensstandard des Verpflichteten; der Bedarf richtet sich nur nach den Erwerbsmöglichkeiten des bedürftigen Ehegatten. Der Unterhaltsberechtigte kann einen Anspruch nur stellen, wenn er die elementaren Bedürfnisse nicht aus seinem eigenen Einkommen und Vermögen befriedigen kann. Er muss daher alle Einkünfte einsetzen, die er unter zumutbarem Einsatz seiner Kräfte, Ausbildung und anderer Fähigkeiten erzielen kann. Auch zivilrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Renten, Stipendien und dgl. sind einzusetzen, ebenso Einkünfte aus Vermögen wie Zinseinkünfte und hypothetisch erzielbare Einkünfte. Keine einsetzungspflichtigen Einkünfte sind solche Zuwendungen, die nicht aufgrund einer Unterhaltspflicht oder einer sonstigen Rechtspflicht gemacht werden (freiwillige Zuwendungen).
Rz. 104
Der Unterhaltsanspruch setzt weiter voraus, dass der Verpflichtete leistungsfähig, d.h. in der Lage ist, aus eigenem Einkommen und Vermögen dem anderen Mittel zur Verfügung zu stellen. Das polnische Recht kennt keine festen Selbstbehaltsätze; vielmehr ist in jedem Einzelfall zu entscheiden, in welchem Umfang der Unterhaltsverpflichtete auch geringe Einkünfte mit dem Unterhaltsberechtigten zu teilen hat. Nach Auffassung des Obersten Gerichts besteht ein Unterhaltsanspruch wegen mangelnder Leistungsfähigkeit nur dann nicht, wenn der Unterhaltsverpflichtete über keine finanziellen Mittel verfügt. Daraus wird geschlossen, dass es zugunsten des Verpflichteten keine Grenze des Selbstbehalts gibt, die nicht unterschritten werden darf. Nach Art. 14 des Haager Unterhaltsprotokolls 2007 sind bei der Bemessung des Unterhaltsbetrages auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Unterhaltsverpflichteten zu berücksichtigen, selbst wenn das anzuwendende Recht etwas anderes bestimmt. Lebt der Unterhaltsverpflichtete in Deutschland, so können daher die in den Leitlinien der Oberlandesgerichte festgelegten Selbstbehaltsätze angewendet werden.
c) Der privilegierte Anspruch gegen den alleinschuldigen Ehegatten
Rz. 105
Ist ein Ehegatte für alleinschuldig an der Zerrüttung der Ehe befunden worden, so schuldet er dem anderen Ehegatten auch dann Unterhalt, wenn durch die Scheidung der Ehe eine wesentliche Verschlechterung der materiellen Situation des unschuldigen Ehegatten eingetreten ist (Art. 60 § 2 FVGB). Die Verschlechterung muss ihre Ursache in der Scheidung haben. Auf die Bedürftigkeit des Berechtigten kommt es nicht an. Zu vergleichen ist die materielle Lage des nichtschuldigen Ehegatten mit derjenigen, die bestehen würde, wenn die Ehe nicht geschieden worden wäre und die Ehegatten noch zusammenlebten. Art. 60 § 2 FVGB regelt daher einen – im Vergleich zum einfachen Unterhaltsanspruch – höheren Bedarf. Der Unterhaltsberechtigte nimmt auch an Verbesserungen des Lebensstandards des alleinschuldigen Ehegatten teil.