Leitsatz
Artikel 6 Absatz 2 Unterabsatz 1 Buchstabe a und 13 Teil B Buchstabe b der 6. EG-RL sind so auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, wonach die Verwendung eines Teils eines insgesamt dem Unternehmen zugeordneten Betriebsgebäudes für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen als eine – als Vermietung oder Verpachtung eines Grundstücks im Sinn des Artikels 13 Teil B Buchstabe b – steuerfreie Dienstleistung behandelt wird.
Normenkette
§ 1 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. b UStG , § 4 Nr. 12 UStG , § 9 UStG , § 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG , Art. 13 und Art. 17 der 6. EG-RL
Sachverhalt
Herr Seeling hatte 1995 ein Gebäude errichtet, das er (insgesamt) seinem Unternehmen zuordnete und seit Fertigstellung teilweise unternehmerisch und teilweise für eigene Wohnzwecke nutzte. Er machte 1995 die auf das gesamte Gebäude entfallenden Vorsteuerbeträge geltend. Im Hinblick auf die private Verwendung des Gebäudes erklärte er steuerpflichtigen Eigenverbrauch.
FA und FG waren der Ansicht, die private Nutzung des Gebäudes sei ein steuerfreier Eigenverbrauch. Ein Verzicht auf die Steuerbefreiung nach § 9 UStG sei beim Eigenverbrauch nicht zulässig, weil diese Vorschrift einen Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen voraussetze. Das FA versagte insoweit den Vorsteuerabzug.
Entscheidung
Der EuGH stellte die zuvor zusammengefassten Grundssätze auf. Der BFH muss nun den konkreten Fall entscheiden.
Hinweis
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH war die Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Grundstücks für unternehmensfremde Zwecke dann steuerfrei und schloss gem. § 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG den Vorsteuerabzug insoweit aus, wenn im Fall entgeltlicher Überlassung an einen Dritten eine Grundstücksvermietung i.S.d. § 4 Nr. 12 Satz 1 Buchst. a UStG gegeben wäre (vgl. Urteil vom 10.2.1994, V R 33/92, BStBl II 1994, 668). Ein Verzicht auf die Steuerbefreiung gem. § 9 UStG ist beim Eigenverbrauch deshalb nicht zulässig, weil die Vorschrift einen Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen voraussetzt. Bei einer Grundstücksvermietung an Dritte ist der Verzicht (in bestimmten Fällen) möglich.
Nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. a der 6. EG-RL wird einer – gem. Art. 2 Nr. 1 der 6. EG-RL der Mehrwertsteuer unterliegenden – Dienstleistung gegen Entgelt die Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen, für den Bedarf seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke gleichgestellt, wenn dieser Gegenstand zum vollen oder teilweisen Abzug der Mehrwertsteuer berechtigt hat. Damit soll – so der EuGH – eine Gleichbehandlung zwischen Steuerpflichtigem (der einen für das Unternehmen bezogenen Gegenstand für nichtunternehmerische Zwecke verwendet) und Endverbraucher sichergestellt werden.
Unklar war, ob danach die – teilweise – Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Grundstücks für private Zwecke "wie eine Vermietung und Verpachtung von Grundstücken" zu beurteilen war. Die entsprechende, die Auslegung der Richtlinie betreffende Frage des BFH (vergl. BFH, Beschluss vom 25.5.2000, V R 39/99, BFH/NV 2000, 1175) hat der EuGH nun entschieden.
Dessen Grundsätze sind:
- Der Unternehmer hat – bei gemischter Nutzung eines Gegenstands – die Möglichkeit, diesen ganz oder teilweise dem Unternehmen zuzuordnen.
- Ordnet er ihn ganz dem Unternehmen zu, ist die ganze Vorsteuer abziehbar.
- Verwendet er ihn – teilweise – privat, muss er insoweit die Umsatzsteuer auf den Betrag der Ausgaben für diese Verwendung bezahlen (vgl. § 3 Abs. 9a UStG).
- Die in Art. 13 der 6. EG-RL (vgl. § 4 UStG) bezeichneten Steuerbefreiungen sind Ausnahmen von der Regel. Daher sind die Begriffe der Steuerbefreiungen – wie z.B. die Begriffe Vermietung und Verpachtung – eng auszulegen.
- Die Vermietung besteht darin, dass der Vermieter eines Grundstücks dem Mieter gegen Zahlung des Mietzinses für die vereinbarte Dauer das Recht einräumt, seine Sache in Besitz zu nehmen und andere von ihr auszuschließen.
- Die private Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Grundstücks erfüllt die zuvor bezeichneten Wesensmerkmale nicht.
Weil die private Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Grundstücks einer Vermietung (vergl. § 4 Nr. 12 UStG) nicht gleichgesetzt werden kann, stellt sich die Frage der Option (vergl. § 9 UStG) schon von vornherein nicht. Den Einwand, dass sich wegen des – im Vergleich zur wirtschaftlichen Lebensdauer eines Gebäudes – kurzen Berichtigungszeitraums (vgl. § 15a UStG) und der Möglichkeit, schon bei geringfügiger unternehmerischer Nutzung den ganzen Gegenstand dem Unternehmen zuzuordnen, für Unternehmer günstige Gestaltungsmöglichkeiten ergeben, verwies der EuGH darauf, dass die Richtlinie einen längeren Berichtigungszeitraum – 20 Jahre – erlaube.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 8.5.2003, Rs. C-269/00 – Wolfgang Seeling –