I. Bedeutung der Auslegung
Rz. 75
Der Auslegung kommt im Grundbuchverfahrensrecht eine größere Bedeutung zu, als allgemein angenommen wird. Die Auslegung darf nie die besonderen Umstände des Einzelfalles außer Acht lassen. Deshalb muss vor einer Verallgemeinerung veröffentlichter Entscheidungen ohne Prüfung ihrer Besonderheiten gewarnt werden.
II. Auslegungspflicht im Grundbuchrecht
Rz. 76
Die durch § 242 BGB ergänzten Auslegungsvorschriften der §§ 133 und 157 BGB beherrschen als allgemeiner Rechtsgrundsätze das gesamte private und öffentliche, materielle und formelle Recht, auch das materielle und formelle Grundstücksrecht. Das Grundbuchamt hat im Antrags- und Amtsverfahren die Pflicht, die Auslegungsgrundsätze zu berücksichtigen (vgl. Rdn 25); die Beteiligten haben ein Recht auf deren Beachtung.
III. Allgemeine Auslegungsgrundsätze
Rz. 77
Auslegung bedeutet Ermittlung des wirklichen Inhalts und Sinnes einer Erklärung, deren Wortlaut wegen Unklarheiten zu Zweifeln Anlass gibt. Die Auslegung darf nicht gegen den erklärten oder mutmaßlichen Willen nach objektiven Gesichtspunkten erfolgen und nicht zu einer Umdeutung im Sinne des § 140 BGB führen, wohl aber zu einer Berichtigung eines misslungenen Ausdrucks. Allgemein gilt natürlich, dass eine Auslegung unnötig und unzulässig ist, wenn eine Erklärung eindeutig und klar formuliert ist. Dabei ist nicht am Wortlaut selbst zu kleben, das Grundbuchamt darf insbesondere keine bestimmte Wortwahl verlangen. So kann auch die Auflassungserklärung als eindeutig ermittelt werden, wenn sie nicht – wie allgemein üblich – demonstrativ in der notariellen Urkunde erklärt wird. Auch muss das Wort "Eintragungsbewilligung" oder das Verb "bewillige" nicht wörtlich erklärt werden.
Rz. 78
Um den wirklichen Willen zu erforschen, muss losgelöst vom buchstäblichen Sinn des Ausdrucks der Gesamtinhalt der Erklärung einschließlich aller Begleitumstände gewürdigt und der Zusammenhang aller einzelnen Teile in der Erklärung miteinander berücksichtigt werden. Ausgangspunkt ist die Ermittlung des inneren Willens des Erklärenden, der auch bei vollständig abweichender Erklärung entscheidend ist, wenn der Empfänger ihn verstanden hat. Im nächsten Schritt ist festzustellen, wie der Erklärungsempfänger die Willenserklärung bei objektiver Würdigung aller Umstände und mit Rücksicht auf Treu und Glauben zu verstehen hatte. Entscheidend ist nicht der verborgene, unkontrollierbare innere Wille des Erklärenden, sondern der Inhalt und allgemein verständliche Sinn der Erklärung unter Berücksichtigung des ganzen Zusammenhangs entsprechend den zwischen objektiv denkenden Menschen herrschenden Anschauungen und der Verkehrssitte.
Auslegung muss das richtige Maß finden zwischen dem Bestreben des Erklärenden an der Durchsetzung seines Willens und dem berechtigten Interesse des Erklärungsempfängers an einem Schutz gegen die Verwertung der ihm nicht erkennbaren Umstände. Die Spannbreite reicht von der weitgehenden Berücksichtigung des subjektiven Willens beim Testament bis zum strengsten Maßstab der Auslegung sogenannter Erklärungen an die Öffentlichkeit.
Bei Auslegung von empfangsbedürftigen Erklärungen und Verträgen ist nur verwertbar, was dem Erklärungsempfänger im Zeitpunkt des Zugangs der Erklärung erkennbar war. Bei Erklärungen an eine unbestimmte Personenmehrheit ist maßgebend, was die Allgemeinheit erkennen kann. Andererseits ist der vom Empfänger richtig verstandene, aber Dritten verborgene Wille dann maßgebend und für eine anderweitige Auslegung nach objektiven Gesichtspunkten kein Raum, wenn beide Parteien sich über die Bedeutung einer objektiv zweideutigen Erklärung einig waren. Dies gilt aber nur im Innenverhältnis unter diesen Vertragspartnern, dagegen nicht für eine in die Rechtssphäre Dritter eingreifende Auslegung.
Rz. 79
Bei Auslegung formbedürftiger Erklärungen stellt sich die Formfrage erst, wenn zuvor der Erklärungsinhalt durch Auslegung ermittelt worden ist. Dabei ist auch die Berücksichtigung von Umständen außerhalb der Urkunde zulässig und geboten. Zur Wahrung der vorgeschriebenen Form muss aber der Wille in der Urkunde, bei der Auflassung in den in der Auflassungsform des § 925 Abs. 1 BGB abgegebenen Erklärungen, irgendeinen, wenn auch unvollkommenen Ausdruck in der formgemäßen Erklärung gefunden haben. Selbst bei unrichtiger Bezeichnung des Vertragsgegenstands im Urkundentext (§ 311b Abs. 1 BGB) gilt die gesetzliche Form bezüglich des wirklich gewollten Gegenstands als erfüllt, wenn beide Vertragspartner über den wirklich gewollten Gegenstand einig sind, ihn aber infolge...