1 Leitsatz
Wird die Berufung gegen ein AG-Urteil nicht bei dem in der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung benannten, für Wohnungseigentumssachen zuständigen LG, sondern bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen LG eingelegt, kann das angerufene Berufungsgericht seine Unzuständigkeit nicht "ohne Weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" erkennen, und der Rechtsmittelführer kann nicht darauf vertrauen, dass das Gericht seinerseits Maßnahmen ergreifen wird, um die Fristversäumnis abzuwenden.
2 Normenkette
§ 43 Abs. 2 WEG; § 72 Abs. 2 GVG; § 233 Satz 1 ZPO
3 Das Problem
Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer K verlangt von B als ehemaligem Verwalter die Herausgabe von Verwaltungsunterlagen. Das AG gibt der Klage weitgehend statt. Das Urteil wird B am 28.8.2020 zugestellt. In der Rechtsmittelbelehrung wird das LG Dortmund als zuständiges Berufungsgericht bezeichnet. Die Berufung geht am 21.9.2020 beim LG Essen ein.
Nachdem der gegnerische Prozessbevollmächtigte auf die Unzuständigkeit dieses LG hinweist, nimmt B die Berufung zurück und legt beim LG Dortmund Berufung ein, verbunden mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung. Der Schriftsatz geht dort am 27.10.2020 ein. Das LG Dortmund weist den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwirft die Berufung als unzulässig. Mit der Rechtsbeschwerde will B Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Durchführung der Berufung erreichen.
4 Die Entscheidung
Ohne Erfolg! Die Versäumung der Berufungsfrist beruhe auf einem B zurechenbaren Verschulden seines Prozessbevollmächtigten (§ 85 ZPO). Den hohen Sorgfaltsanforderungen sei der Prozessbevollmächtigte schon deshalb nicht gerecht geworden, weil er die zutreffende Rechtsmittelbelehrung des AG nicht befolgt habe.
Das funktionell unzuständige LG Essen sei auch nicht aufgrund der prozessualen Fürsorgepflicht gehalten gewesen, Maßnahmen zur Verhinderung der Fristversäumnis zu ergreifen. Es bestehe keine generelle Fürsorgepflicht des unzuständigen Rechtsmittelgerichts, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern. Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge verfassungsrechtlich geboten sei, könne sich nicht nur am Interesse des Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern müsse auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden müsse. Danach müsse der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden. Etwas anderes könne nur dann gelten, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts "ohne Weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen sei und die nicht rechtzeitige Aufdeckung der nicht gegebenen Zuständigkeit auf einem offenkundig nachlässigen Fehlverhalten des angerufenen Gerichts beruhe.
Um einen solchen Ausnahmefall gehe es nicht. Werde die Berufung gegen ein AG-Urteil nicht bei dem in der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung benannten, für Wohnungseigentumssachen zuständigen LG, sondern bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen LG eingelegt, könne das angerufene Berufungsgericht seine Unzuständigkeit nicht "ohne Weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" erkennen, und der Rechtsmittelführer könne nicht darauf vertrauen, dass das Gericht seinerseits Maßnahmen ergreifen werde, um die Fristversäumnis abzuwenden.
5 Hinweis
Problemüberblick
Wird ein fristgebundener Rechtsmittelschriftsatz irrtümlich beim falschen Gericht eingereicht und kann dieses seine Unzuständigkeit "ohne Weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" erkennen, ist der fehlgeleitete Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsganges an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Geschieht dies nicht, geht die nachfolgende Fristversäumnis nicht zulasten des Rechtsuchenden, wenn und soweit die Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang für eine Fristwahrung ausgereicht hätte. Eine der Kardinalfragen bei dieser Rechtsprechung ist neben den Fragen, wer wohl wann was erkennen kann, wie früh die Rechtsmittelschrift beim falschen Gericht eingehen muss, damit man auf eine Weiterleitung vertrauen darf.
"Ohne Weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei"
Nach der Rechtsprechung ist die Unzuständigkeit "ohne Weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen und darf der Rechtsmittelführer auf eine Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang vertrauen, wenn er die Rechtsmittelschrift versehentlich an das Ausgangsgericht gerichtet und damit für die Geschäftsstelle offenkundig falsch adressiert hat.
Der V. Zivilsenat meint, im Fall liege es anders. Es sei möglich gewesen, dass der Berufungsführer es besser als das AG gewusst habe. Denn in Verfahren mit wohnungseigentumsrechtlichem Bezug sei regelmäßig gerade nicht "leicht und einwandfrei" zu erkennen, welches Gericht zuständig sei, weil die Zuständigkeitskonzentration nur dann eintrete, wenn es sich in der Sache um eine ...