Gesetzestext
(1) Diese Verordnung gilt in Zivil- oder Handelssachen, in denen das Gericht eines Mitgliedstaats nach seinem innerstaatlichen Recht
a) |
das zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats um Beweisaufnahme ersucht oder |
b) |
darum ersucht, in einem anderen Mitgliedstaat unmittelbar Beweis erheben zu dürfen. |
(2) Um Beweisaufnahme darf nicht ersucht werden, wenn die Beweise nicht zur Verwendung in einem bereits eingeleiteten oder einem gerichtlichen Verfahren bestimmt sind, dessen Eröffnung geprüft wird.
Rn 1
Die EuBVO kennt im Wesentlichen zwei Möglichkeiten einer Beweisaufnahme bei im Ausland belegenen Beweismitteln: Die Beweiserhebung durch ein Gericht des ersuchten Mitgliedsstaats (Art 12 ff, aktive Rechtshilfe) und die unmittelbare Beweisaufnahme (Art 19 f, passive Rechtshilfe). Letztere setzt bei der Vernehmung von Personen (s zum Begriff Art 19 Rn 2) voraus, dass diese freiwillig an ihrer Vernehmung mitwirken (Art 19 II). Ist dies der Fall, erfordern der Unmittelbarkeitsgrundsatz und die dem Gericht obliegende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts idR eine unmittelbare Beweisaufnahme, insb mittels Videokonferenztechnik (BPatG GRUR 03, 176, s.a. Windau jM 21, 178, 181). Diese wird nun in Art 20 EuZVO ausdrücklich geregelt. Art 21 sieht ab dem 1.7.22 als dritte Möglichkeit die Vernehmung eigener Staatsangehöriger durch Bedienstete diplomatischer oder konsularischer Vertretungen vor.
Rn 2
Der Begriff der Zivil- und Handelssache entspricht demjenigen des Art 1 I Brüssel Ia-VO (s dort Rn 10). Der Ausnahmekatalog des Art 1 II Brüssel-Ia-VO greift hier aber nicht, sodass die EuBVO bspw auch in Familiensachen, Erbsachen und Insolvenzsachen anwendbar ist. Soweit in derartigen Verfahren der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, hat das Gericht die EuBVO auch vAw zu nutzen (BVerfG NJW 16, 626 [BVerfG 14.09.2015 - 1 BvR 1321/13]).
Rn 3
Der Begriff der Beweisaufnahme ist weit auszulegen und umfasst ›möglichst viele Maßnahmen der justiziellen Informationsbeschaffung‹ (GA Kokott, Schlussantrag EuGHE 2007, I-7929, Rz 43), zB auch die Entnahme von Blutproben in Familiensachen (Knöfel EuZW 08, 267, 268 mwN), nicht aber die Ermittlung von Anschriften zur Zustellung (EuGH IWRZ 22, 44 = ECLI:EU:C:2021:719). Insb fällt in den Anwendungsbereich der EuBVO auch die Anhörung von Parteien oder Beteiligten, zB gem §§ 141 ZPO, 128 II oder 159 FamFG (Schlosser/Hess/Schlosser Rz 1; iErg auch St/J/Domej Rz 22), nicht aber die Wortmeldung einer lediglich gem § 128a I teilnehmenden Partei (zur Zulässigkeit s Windau jM 21, 178, 179 f; Stürner AnwBl Online 21, 167, 168). Aufgrund des weiten Begriffs der Beweisaufnahme sind auch Beweissicherungsmaßnahmen, wie zB ein selbständiges Beweisverfahren umfasst (MüKoZPO/Rauscher Rz 7; Heinze IPRax 08, 480).
Rn 4
Die EuBVO regelt nur das ›wie‹ einer Beweisaufnahme im Ausland, aber nicht, ›ob‹ eine solche überhaupt vorliegt. Letzteres ist nach lex fori zu entscheiden (Rauscher/v Hein Rz 18 f, der aber für Art 17 eine autonome Auslegung fordert). Einem nach nationalem Recht zulässigen ›Beweismittelimport‹ ohne Beachtung des Verfahrens der EuBVO steht diese daher nicht im Wege, soweit die EuBVO nicht bestimmte Formen des Beweismittelimports regelt.
Rn 4a
Das Gericht darf deshalb den Parteien aufgeben, Augenscheinsobjekte oder Urkunden vorzulegen, die sich im Ausland befinden (Gebauer/Wiedmann/Huber Art 1 EuBVO Rz 43 ff).
Rn 4b
Nach dem jeweiligen lex fori und ohne Rückgriff auf die EuBVO darf das Gericht Zeugen oder Sachverständige zur Vernehmung vor dem Prozessgericht im Forumsstaat laden (s EuGH NJW 12, 3771 Rz 31; EuGH ECLI:EU:C:2022:678 Rz 32 f; s auch Wieczorek/Schütze/Ahrens § 363 Rz 42; Dötsch MDR 11, 269); es muss dies aufgrund des Unmittelbarkeitsgrundsatzes sogar im Regelfall, wenn ein Zeuge dazu bereit ist (St/J/Chr. Berger, § 363 Rz 5, anders § 363 Rn 23). Das Prozessgericht darf den Zeugen oder Sachverständigen nach seiner lex fori auch um eine freiwillige schriftliche Zeugenaussage ersuchen, ohne dass es dafür einer Genehmigung gem Art 19 bedarf (EuGH ECLI:EU:C:2022:678 Rz 34 ff; Nagel/Gottwald § 9 Rz 139; Schack IZVR Rz 803; Lafontaine DAR 20, 541; aA § 363 Rn 23; Celle Urt v 20.2.20 – 11 U 169/19). Für eine Zulässigkeit spricht die Systematik von Art 8, 9 EuGFVO, denn nur deren Art 9 III EuGFVO verweist für die Anhörung einer Person über Art 8 I 2 EuGFVO auf die Regelungen der EuBVO, Art 9 II EuGFVO für die schriftliche Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen hingegen nicht.
Rn 4c
Nicht um einen ›Beweismittelimport‹, sondern um einen genehmigungsbedürftigen Vorgang handelt es sich hingegen, wenn das deutsche Prozessgericht eine zu vernehmende Person im Wege der Videoübertragung im Ausland vernimmt (ebenso zB Gebauer/Wiedmann/Huber Art 1 EuBVO Rz 46; BeckOK/von Selle § 128a Rz 16; Stadler ZZP 115 (02), 413, 441; vgl auch § 60 ZRHO). Die Gegenansicht beruft sich insb auf eine Entscheidung des britischen House of Lords (RIW 06, 301 mit zustimmender Anm Knöfel 303; ähnl Rauscher/v Hein Rz...