Rn 3

Ziel des – Art 8 I wegen Art 8 II vorgehenden (s Art 8 Rn 1) – Art 10 ist es, den Vorrang des Herkunftsmitgliedstaats für die Sorgerechtsentscheidung zu sichern (EuGH FamRZ 18, 1430; Anm Dimmler FamRB 18, 392). Denn das Kind kann im Zufluchtsmitgliedstaat einen – wenn auch infolge rechtswidrigen Verbringens oder Zurückhaltens – neuen gewöhnlichen Aufenthalt erwerben (die Definition ist dieselbe wie in Art 8 I, s dazu EuGH FamRZ 11, 617; Anm Mankowski GPR 11, 209; Saarbr FamRZ 11, 1235 und Art 8 Rn 2; s zum Begriffsinhalt in HKÜ-Fällen, in denen die Verordnung nicht anwendbar ist, Frankf FamRZ 06, 883), sodass Art 8 I greifen würde, wenn nicht Art 10 die aus Art 16 HKÜ bekannte Zuständigkeitssperre fortschreiben würde. Dagegen verbleibt es bei Art 8 I, sofern der gewöhnliche Aufenthalt erst nach Antragstellung begründet wird (perpetuatio fori, NK-BGB/Gruber Art 10 Rz 10). Kind iSd Art 10 der Verordnung ist auch dasjenige, das die Altersgrenze des HKÜ von 16 Jahren erreicht hat (so zutr Siehr IPRax 10, 583 gegen OGH v 18.9.09 – 6 Ob 181/09z – mwN), so dass bei widerrechtlichem Verbringen eines 16 Jahre alten Kindes zwar der Rückführungsmechanismus der Verordnung und des HKÜ nicht mehr greift, aber die internationale Zuständigkeit des Ursprungsstaats nach Maßgabe von Art 10 der Verordnung erhalten bleibt. Die Sperre des Art 10 erfasst alle Entscheidungen betreffend die elterliche Verantwortung, außer freilich die Entscheidung über die Rückgabe des Kindes, die den Gerichten des Staats vorbehalten ist, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde bzw in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird. Nicht von Art 10 erfasst sind auch auf der Grundlage von Art 20 (für Deutschland iVm §§ 15 IntFamRVG, 49 ff FamFG) erlassene einstweilige Anordnungen (Zö/Geimer Art 10 Rz 14), entsprechende besondere Dringlichkeit vorausgesetzt (s dazu Art 20 Rn 1).

 

Rn 4

Art 10 lit b sublit i–iii sanktionieren vornehmlich die Passivität der jeweiligen sorgeberechtigten Person (Hausmann Art 10 Rz F 144). Ein bloßes Untätig bleiben des zurückgebliebenen Elternteils stellt keine Zustimmungserklärung dar (Rauscher/Rauscher Art 10 Rz 20). Der erforderliche Aufenthalt des Kindes von einem Jahr seit der Entführung in lit b meint keinen gewöhnlichen, sondern den – insoweit ausreichenden – schlichten Aufenthalt (Solomon FamRZ 05, 1409, 1417; ThoPu/Hüßtege Art 10 Rz 4). Bei mehreren sorgeberechtigten Personen ist auf die Kenntnis eines Trägers der elterlichen Sorge abzustellen. Grob fahrlässiges Verschließen hinsichtlich des neuen Aufenthaltsortes des Kindes genügt für die Kenntnis. Die wesentlichen Umstände des neuen Aufenthaltsortes müssen bekannt sein bzw die jeweilige sorgeberechtigte Person muss sich dem neuen Aufenthaltsort grob fahrlässig verschlossen haben (Rauscher/Rauscher Art 10 VO Rz 24). Es genügt daher, dass sich das Kind in einem bestimmten Staat aufhält und die sorgeberechtigte Person Kenntnis von den näheren Umständen des Aufenthalts hat, auch wenn der exakte Aufenthalt nicht bekannt sein sollte (Rauscher/Rauscher Art 10 VO Rz 24 Fn 59). Zum HKÜ-Verfahren im Einzelnen s Art 11, wobei insb die Ausgestaltung des Verfahrens durch Art 11 VI–VIII die Zuständigkeitsvorschrift absichert. Art 10 lit b Nr iv ist dahin auszulegen, dass eine vorläufige Regelung keine ›Sorgerechtsentscheidung […] in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird‹ iS dieser Alternative darstellt (EuGH FamRZ 10, 1229 [Povse] m Anm Schulz, 1307). Art 15 – grenzüberschreitende Verweisung – bleibt anwendbar (arg Art 15 VI 2 und Art 15 V 3), wenn auch die von Art 10 bezweckte Generalprävention dafür spricht, eine solche Verweisung nur ganz ausnahmsweise in Erwägung zu ziehen (vgl NK-BGB/Gruber Art 10 Rz 11).

 

Rn 5

Sind die ursprünglichen Gerichte für eine Sorgerechts- oder Umgangsentscheidung weiterhin zuständig, wird unter der Geltung der Brüssel IIa-VO Art 17 maßgeblich. Trotz der Sperrwirkung des Art 10 gilt der Prioritätsgrundsatz mit der Folge der Aussetzung des Art 19 II auch dann, wenn ein Verfahren hinsichtlich der elterlichen Verantwortung im (an sich unzuständigen) Zufluchtsstaat eingeleitet wird (Hamm IPRspr 05, Nr 204, 552). Dies ist auf Grund der Konzeption der Verordnung – bedauerlicherweise – hinzunehmen.

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