Prof. Dr. Thomas Pfeiffer
Rn 3
Für die Auslegung der VO gelten allgemeine Auslegungsgrundsätze, wie sie auch sonst im Unionsrecht anerkannt sind. Ferner müssen allgemeine Grundsätze des Unionsrechts wertungsleitend berücksichtigt werden, etwa das Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit (EuGH Slg 94, I-467) oder die Verwirklichung des Justizanspruchs und des Rechts auf ein faires Verfahren (EuGH C-292/10) sowie die Gewährleistungen der Grundrechtecharta (EuGH C-112/13). Hinzu kommen besondere zuständigkeitsrechtliche Auslegungsgrundsätze: namentlich der Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner besonderen Ausprägung als Zuständigkeitsklarheit (zB EuGH Slg 06, I-6827 Rz 24 f) oder Gesichtspunkte der Sach-, Beweis-, Rechts- oder Vollstreckungsnähe oder eine auslegungsleitende Funktion des allgemeinen Beklagtengerichtsstands (zB EuGH Slg 07, I-08319). Anerkennungsrechtlich geht es va um die Gewährleistung der Titelfreizügigkeit. Geboten ist nach Erw 7 ROM I-VO grds eine harmonische Auslegung beider Rechtsakte; diese Maßgabe gilt aber nur iRv Sinn und Zweck der Brüssel Ia-VO (EuGH C-208/18 Rz 63). Gleichwertige Vorschriften in der VO und im LugÜbK sind grds gleich auszulegen (EuGH ECLI:EU:C:2023:276 Rz 27).
Rn 4
Die VO 1215/2012 verwendet allerdings vielfach Begriffe, die auch in den nationalen Zivil-, Handels- und Prozessrechten verwandt werden und dort eine unterschiedliche Bedeutung haben. Von den hierfür in Betracht kommenden Auslegungsmethoden – autonome Auslegung, Verweis auf die lex fori oder die lex causae – genießt keine schlechthin Vorrang. Vielmehr ist die maßgebende Methode aus dem Sinn der Norm heraus zu bestimmen (EuGH Slg 76, 1473). Dem Rechtsvereinheitlichungszweck der Verordnung entspricht eine autonome Auslegung der Verordnung auf rechtsvergleichender Grundlage aus sich selbst heraus meist am besten, namentlich (aber nicht nur) wenn es um den Anwendungsbereich der VO geht. Sie beruht gleichermaßen auf der Heranziehung europäischer Erkenntnisquellen (Gesamtsystem und Hauptziele der VO) und einer ›ordnenden Zusammenfassung‹ der sich aus den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten ergebenden Grundsätze. Praktisch genießt sie den Vorrang. Dem Verfahren nach ist für die Auslegung der VO der EuGH iRd Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267 AEUV zuständig. Es gelten die allgemeinen Maßgaben der Vorlagepflicht und der Vorlageberechtigung. Die zur Vorgänger-VO 44/2001 sowie zum früheren Brüsseler Übereinkommen (EuGVÜ) ergangene Rspr bleibt weiter beachtlich, soweit die geänderte Normlage nicht entgegensteht (EuGH C-186/19 = ECLI:EU:C:2020:638 Rz 47).