Prof. Dr. Thomas Pfeiffer
I. Räumlich-territorial.
Rn 5
Die Verordnung ist nur auf Rechtstreitigkeiten mit grenzüberschreitendem Bezug anzuwenden. Ihre räumlich-territoriale Anwendbarkeit ergibt sich aus den räumlich-territorialen Anknüpfungsvoraussetzungen ihrer einzelnen Vorschriften. Ein ungeschriebenes Merkmal, wonach ein Bezug zu Rechtsordnungen verschiedener Mitgliedstaaten bestehen muss, kennt die Verordnung nicht (EuGH Slg 00, I-5925). Der erforderliche grenzüberschreitende Bezug ergibt sich, soweit es um die Beachtung der Rechtshängigkeit in einem anderen Mitgliedstaat oder die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen aus anderen Mitgliedstaaten geht, unmittelbar aus den sachlich geregelten Fragenkreis. Einer besonderen Feststellung bedarf er demgegenüber bei der Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften der VO. Er ist ohne Weiteres dann gegeben, wenn zuständigkeitsrechtliche Anknüpfungsmomente auf das Ausland hinweisen. Für die Zuständigkeit in Verbrauchersachen lässt es der EuGH ausreichen, wenn diese Grenzüberschreitung erst nach Vertragsschluss durch Verlegung des Verbraucherwohnsitzes ins Ausland zustande kommt (EuGH C-296/20 = ECLI:EU:C:2021:784). Problematisch sind Auslandsbezüge, die nicht ohne Weiteres von zuständigkeitsrechtlicher Bedeutung sind, etwa die Staatsangehörigkeit. Allerdings ist der geforderte grenzüberschreitende Bezug von der konkreten Anknüpfung zu unterscheiden (EuGH Slg 11 I-11543 Rz 31), so dass die Feststellung des Auslandsbezugs nicht auf die Berücksichtigung zuständigkeitsrechtlicher Anknüpfungsmomente beschränkt ist. Der EuGH hat die ausländische Staatsangehörigkeit jedenfalls dann als grenzüberschreitenden Bezug ausreichen lassen, wenn eine zuständigkeitsrechtliche Unklarheit aufgrund unbekannten Wohnsitzes hinzutritt (EuGH Slg 11 I-11543 Rz 32 ff).
Rn 6
Die VO gilt in den EU-Mitgliedstaaten (einschließlich Zypern, EuGH C-420/07), außer in Dänemark. Durch das mit Dänemark geschlossene Abkommen von 2005 (Rn 1) werden weite Teile der VO aber im Ergebnis auf Dänemark erstreckt, da Dänemark der EU seine Absicht zur Anwendung nach Maßgabe dieses Übereinkommens notifiziert hat (AblEU 14 L 240/1).
II. Persönlich.
Rn 7
Besondere persönliche Anwendungsvoraussetzungen kennt die VO nicht. Zu Verbraucherverträgen s Art 17–19, zu Arbeitsverträgen Art 20–23.
III. Zeitlich.
Rn 8
Die zeitliche Anwendbarkeit regelt Art 66 iVm Art 81. Der sog ›Recast‹ (Abl EU v 20.12.12 L 351/1) von Ende 2012 ersetzt die frühere VO 44/2001 durch die jetzige VO 1215/2012. Zu den wesentlichen Änderungen gehörten die Abschaffung des Exequatur als Vollstreckungsvoraussetzung sowie eine verstärkte Stellung von Gerichtsstandsvereinbarungen (Alio NJW 14, 2395; von Hein RIW 13, 97; Nielsen CMLR 13, 503; Pfeiffer ZZP 127 [14], 409; Domej RabelsZ 78 [14], 521). Die jetzige Fassung gilt gemäß Art 81 seit dem 10.1.15, mit Ausnahme der Art 75 und 76, die seit dem 10.1.14 gelten.
IV. Sachlich.
Rn 9
Soweit es für die Regelungen zur sachlichen Zuständigkeit auf die Zuordnung zu einem bestimmten Rechtsgebiet ankommt, ist der mit der Klage geltend gemachte Anspruch maßgebend. Die Zuständigkeit ist deshalb nicht ausgeschlossen, wenn für die Entscheidung eine Rechtsfrage vorgreiflich ist, die in den Ausnahmekatalog von Abs 2 fällt (EuGH Slg 03, I-4207; BGH ZIP 15, 2192). Der sachliche Anwendungsbereich ist weitgehend deckungsgleich mit demjenigen der EuVTVO. Konkurrenz- oder Abgrenzungsfragen können im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung entstehen. Hierfür ist Art 27 EuVTVO maßgebend (s dort).
1. Zivil- und Handelssache.
Rn 10
Die Begriffe sind autonom und grds weit auszulegen. Maßgebend ist die rechtliche Qualifikation des der Klage zugrunde liegenden Rechtsverhältnisses zwischen den Parteien (EuGH Slg 04, I-1543). Das gilt auch im Falle einstweiliger Maßnahmen, für die Art 35 den Anwendungsbereich nach Art 1 nicht erweitert (EuGH Slg 92, I-2149). Deshalb fällt auch die Vollstreckung eines nach § 890 ZPO verhängten Ordnungsgelds im EU-Ausland unter die VO (EuGH C-406/09). Liegt das der Klage zugrunde liegende Rechtsverhältnis außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs der VO, ergibt sich ihre Anwendbarkeit auch nicht dadurch, dass in den Anwendungsbereich fallende Vorfragen zu entscheiden sind (EuGH Slg 94, I-117 Rz 34).
Rn 11
Staatliches Handeln oder dasjenige internationaler Organisationen (EuGH C-186/19 = ECLI: EU:C:2020:638) ist zivilrechtlich zu qualifizieren, soweit es acta iure gestionis betrifft, nicht jedoch soweit es acta iure imperii zum Gegenstand hat. Aufgrund dieser materiell-rechtlichen Konzeption ist die Art der Gerichtsbarkeit irrelevant, so dass auch zivilrechtliche Urteile von Verfassungs- oder Verwaltungsgerichten (zB franz Conseil d'Etat) nach der VO anerkannt werden müssen (Jenard-Bericht BTDrs VI/1973, 58). Ebenso führt die bloße vollstreckungsrechtliche Immunität nicht zur Immunität im Erkenntnisverfahren, wenn acta iure gestionis infrage stehen. Der EuGH legt dabei eine modifizierte Subjektstheorie zugrunde: Öffentlich-rechtlich sind Entscheidungen, die eine Behörde im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befu...