Prof. Dr. Thomas Pfeiffer
Zusammenfassung
Art. 2 Brüssel Ia-VO0 Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
a) |
›Entscheidung‹ jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluss, Zahlungsbefehl oder Vollstreckungsbescheid, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Gerichtsbediensteten. |
Für die Zwecke von Kapitel III umfasst der Ausdruck ›Entscheidung‹ auch einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen, die von einem nach dieser Verordnung in der Hauptsache zuständigen Gericht angeordnet wurden. Hierzu gehören keine einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen, die von einem solchen Gericht angeordnet wurden, ohne dass der Beklagte vorgeladen wurde, es sei denn, die Entscheidung, welche die Maßnahme enthält, wird ihm vor der Vollstreckung zugestellt;
b) |
›gerichtlicher Vergleich‹ einen Vergleich, der von einem Gericht eines Mitgliedstaats gebilligt oder vor einem Gericht eines Mitgliedstaats im Laufe eines Verfahrens geschlossen worden ist; |
c) |
›öffentliche Urkunde‹ ein Schriftstück, das als öffentliche Urkunde im Ursprungsmitgliedstaat förmlich errichtet oder eingetragen worden ist und dessen Beweiskraft
i) |
sich auf die Unterschrift und den Inhalt der öffentlichen Urkunde bezieht und |
ii) |
durch eine Behörde oder eine andere hierzu ermächtigte Stelle festgestellt worden ist; |
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d) |
›Ursprungsmitgliedstaat‹ den Mitgliedstaat, in dem die Entscheidung ergangen, der gerichtliche Vergleich gebilligt oder geschlossen oder die öffentliche Urkunde förmlich errichtet oder eingetragen worden ist; |
e) |
›ersuchter Mitgliedstaat‹ den Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung der Entscheidung geltend gemacht oder die Vollstreckung der Entscheidung, des gerichtlichen Vergleichs oder der öffentlichen Urkunde beantragt wird; |
f) |
›Ursprungsgericht‹ das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, deren Anerkennung geltend gemacht oder deren Vollstreckung beantragt wird. |
A. Überblick.
Rn 1
Die Vorschrift beruht auf der im Unionsrecht verbreiteten Gesetzgebungstechnik, zu Beginn eines Rechtsakts einige für denselben wesentliche Begriffe und Kategorien zu definieren. Art 2 übernimmt dabei zum Teil Definitionen, die früher verstreut geregelt waren (s iE nachstehend). Die Definitionen des Art 2 sind vor allem (aber nicht nur) für die Anerkennung und Vollstreckung bedeutsam.
B. Entscheidung (lit a).
I. Regelungsziel.
Rn 2
Die Vorschrift grenzt den Kreis der Entscheidungen ein, die nach Kapitel III anerkannt und vollstreckt werden. In Betracht kommen insoweit nur Entscheidungen von Gerichten der Mitgliedstaaten, die sachlich Zivil- und Handelssachen iSv Art 1 zum Gegenstand haben und die in den zeitlichen Anwendungsbereich der Verordnung fallen (vgl Art 66, insb Abs 2, Art 76). Die früher hM, dass das Zweitgericht an die vom Ursprungsgericht vorgenommene Qualifikation als Zivil- bzw Handelssache iSd EuGVÜ gebunden sei (BGH NJW 76, 478, 480 [BGH 26.11.1975 - VIII ZB 26/75]), wird in der Kommentarliteratur zu Recht abgelehnt (vgl nur Geimer/Schütze/Geimer Art 32 EuGVO Rz 9). Fällt der Gegenstand einer Entscheidung nur tw in den sachlichen Anwendungsbereich, kommen tw Anerkennung und Vollstreckung in Betracht. Speziellere Verordnungen bleiben gem Art 67 von der EuGVO unberührt. Soweit allerdings eine unbestrittene Forderung tituliert worden ist, räumt Art 27 EuVTVO dem Gläubiger ein Wahlrecht ein, ob er nach dieser Verordnung oder nach der EuGVO vorgehen will. Mit Blick auf eine erfolgte Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel iSd EuVTVO hat der BGH (EuZW 10, 319 [BGH 04.02.2010 - IX ZB 57/09] mit Anm Pfeiffer, LMK 10, 303291; Bittmann IPRax 11, 55) (allerdings ohne EuGH-Vorlage) den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für ein Vorgehen nach Art 39 ff EuGVO angenommen. Zum Verhältnis von EuGVO und staatsvertraglichen Übereinkommen bzw Abkommen vgl Art 69 bis 71.
II. Entscheidung im Einzelnen.
1. Begriff.
Rn 3
Das Merkmal ›Entscheidung‹ ist europäisch-autonom auszulegen (BGH NJW-RR 06, 144). Beispielhaft werden in der Vorschrift ausdrücklich aufgezählt: ›Urteil, Beschluss, Zahlungsbefehl oder Vollstreckungsbescheid, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Gerichtsbediensteten.‹ Dies stellt klar, dass nicht nur Urteile der Anerkennung und Vollstreckung fähig sind, sondern im Grundsatz jedweder von einem Rechtsprechungsorgan eines Mitgliedstaats in einem justizförmigen Verfahren (dazu EuGH C-414/92 – Solo Kleinmotoren, Rz 17, NJW 95, 38, 39) erlassene Ausspruch, durch den etwas zugebilligt oder aberkannt wird. Das umfasst zB Zahlungsanordnungen, die ein mitgliedstaatliches Gericht nach einem kontradiktorischen Verfahren erlassen hat, auch wenn die Anordnung auf der Anerkennung der Rechtskraftwirkung eines drittstaatlichen Urteils beruht (EuGH ECLI:EU:C:2022:264 Rz 25 ff). Nach überwiegender Sicht sind zudem Prozessurteile, insb die Klageabweisung mangels internationaler Zuständigkeit (hierzu nunmehr EuGH – C-456/11 – Gothaer Allgemeine Versicherung/Samskip, EuZW 2012, 60), erfasst (MüKoZPO/Gottwald Rz 8; Kropholler/v Hein Rz 14; Rauscher/Leible Rz ...