Prof. Dr. Thomas Pfeiffer
Zusammenfassung
Art. 23 Brüssel Ia-VO0 Von den Vorschriften dieses Abschnitts kann im Wege der Vereinbarung nur abgewichen werden,
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wenn die Vereinbarung nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wird oder |
2. |
wenn sie dem Arbeitnehmer die Befugnis einräumt, andere als die in diesem Abschnitt angeführten Gerichte anzurufen. |
A. Anwendungsbereich.
Rn 1
Die Vorschriften (bis 2015: ex-Art 18–21) gelten für individualvertragliche Arbeitsrechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Diese Merkmale sind europäisch-autonom auszulegen. In Betracht kommt eine Anlehnung an das EU-Primärrecht. Danach besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH Slg 86, 2121, Rz 16 f; Slg 08, I-6989, Rz 45). Darunter fallen: Teilzeit (EuGH Slg 82, 1035), Ausbildungsverhältnisse (vgl EuGH Slg 86, 2121), Telearbeit, Heimarbeit, Arbeitsverhältnisse zwischen Familienmitgliedern, privatrechtliche Arbeitsverträge der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes; faktische Arbeitsverhältnisse, soweit ein Über- und Unterordnungsverhältnis vorliegt (EuGH ECLI:EU:C:2022:807 Rz 32); der Arbeitsbereich ist gleichgültig (EuGH C-196/87: Mitarbeit in Bhagwan-Sekte gegen Logis und Taschengeld); auch die äußere rechtstechnische Konstruktion kann durchbrochen werden (LAG Frankfurt, LAGE § 611 BGB Arbeitnehmerbegriff Nr. 41: Polnische ›GbR-Gesellschafter‹ als AN). Im Zusammenhang mit Mutterschutzvorschriften hat der EuGH auch Organmitglieder (Geschäftsführer, Vorstände) als Arbeitnehmer angesehen, soweit diese nicht unternehmerisch beteiligt sind sowie nach Weisung oder unter Aufsicht eines anderen Organs handeln (EuGH C-232/09 Rz 56). Dies kann man auf den vorliegenden Zusammenhang übertragen (EuGH C-47/14; hiervon ausgehend auch EuGH ECLI:EU:C:2022:807 Rz 32; aA StJ/Wagner Art 18 Rz 14). Die Mithaftung eines Dritten für Arbeitgeberverpflichtungen, etwa aufgrund einer Garantie oder Patronatserklärung einer Muttergesellschaft, steht einem Arbeitsverhältnis gleich, falls auch im Verhältnis zu dieser ein faktisches Über- und Unterordnungsverhältnis besteht (EuGH ECLI:EU:C:2022:807 Rz 32).
Rn 2
Bei den räumlich-territorialen Anwendungsvoraussetzungen unterscheidet die VO nach der Parteirolle: Auf Aktivprozesse des Arbeitnehmers sind Art 20 ff auch dann anwendbar, wenn der Unternehmer seinen Sitz in einem Drittstaat hat (Art 21 II iVm 21 I lit b). Das bedeutet, dass – entgegen der früheren Rechtslage – der Arbeitnehmer den Arbeitgeber bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art 21 I lit b auch dann am Arbeitsort verklagen kann, wenn dieser seinen Sitz in einem Drittstaat hat. Bei Passivprozessen des Arbeitnehmers ist dieser durch Art 22 geschützt; nur bei Vorliegen von dessen Voraussetzungen ist die VO anwendbar.
B. Anknüpfungsmomente.
Rn 3
Erstreckt sich der Erfüllungsort des Arbeitsverhältnisses über mehrere Länder (einschließlich Festlandssockel: EuGH Slg 02, I-2013), so kommt es für den gewöhnlichen Arbeitsort (Art 21 Nr 2a) auf den tatsächlichen Schwerpunkt an (EuGH Slg 97, I-57). Dieser befindet sich am Ort, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer seine Pflichten ggü seinem Arbeitgeber hauptsächlich erfüllt (EuGH Slg 93, I-4075) bzw den der Arbeitnehmer als tatsächlichen Mittelpunkt seiner Berufstätigkeit gewählt hat oder an dem oder von dem aus er den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen ggü seinem Arbeitgeber tatsächlich erfüllt (EuGH Slg 97, I-57). Eine großzügige Auslegung ist geboten: Ist der Arbeitnehmer im Außendienst tätig oder reist viel, so wird der Mittelpunkt regelmäßig durch sein Büro gebildet, von wo aus er seine Arbeit organisiert und zu dem er immer zurückkehrt (BAG AP Nr 1 zu Art 18 EuGVVO). Falls der Arbeitnehmer einverständlich dauerhaft zu einem anderen Arbeitgeber abgeordnet wird, bildet dessen Arbeitsstätte den gewöhnlichen Arbeitsort (EuGH Slg 03, I-3573). Falls keine anderen Kriterien ersichtlich sind, ist maßgebend, wo der Arbeitnehmer über die ganze Dauer des Arbeitsverhältnisses in zeitlicher Hinsicht überwiegend gearbeitet hat (EuGH Slg 02, I-2013). Bei Transportberufen bildet der Ort, von dem aus er seine Fahrten unternimmt und an dem er seine Anweisungen erhält, in der Regel den Mittelpunkt (EuGH C-384/10 Rz 39 zu Art 6 Rom I-VO); bei Flugpersonal bildet daher die Heimatbasis ein wesentliches Indiz (EuGH C-168/16). Eine vorübergehende Entsendung ändert am gewöhnlichen Arbeitsort nichts. Ausschlaggebend für das Vorliegen einer vorübergehenden Entsendung sind va der Rückkehrwille des Arbeitnehmers und der Rücknahmewille des Arbeitgebers. Eine bestimmte zeitliche Höchstgrenze gilt nicht. Der bloße (verbreitet übliche) Abschluss eines zusätzlichen Auslandseinsatzvertrags führt nicht notwendig zur Endgültigkeit. Hat der Arbeitnehmer endgültig ins Ausland gewechselt, so führen vorübergehende Anwesenheiten im Inland nicht zu einer Rückkehr an einen inländischen Arbeitsplatz. Ausnahmsweise kann nach dem ...