Prof. Dr. Thomas Pfeiffer
Zusammenfassung
Art. 35 Brüssel Ia-VO0 Die im Recht eines Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen können bei den Gerichten dieses Mitgliedstaats auch dann beantragt werden, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache das Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.
Rn 1
Die Vorschrift dient der Effektuierung des grenzüberschreitenden Rechtsschutzes. Die rechtssuchende Partei soll nicht durch die Beschränkungen des Zuständigkeitskatalogs der VO daran gehindert werden, ein zur schnellen und effektiven Entscheidung und Durchsetzung einstweiliger Maßnahmen geeignetes Forum anzurufen (EuGH Slg 05, I-3481). Dabei geht Art 35 von der Unterscheidung zwischen der Hauptsache einerseits und vorläufigen Maßnahmen andererseits aus. Deshalb gehört es zu den Merkmalen der vorläufigen oder sichernden Maßnahmen, dass die endgültige Klärung der Rechtslage erst in einem Hauptsacheverfahren erfolgt (EuGH Slg 92, I-2149 Rz 34; Slg 98, I-7091 Rz 36). Erfasst werden auch Sicherungsmaßnahmen, sofern sie einer nicht endgültigen Sicherung von Vermögenswerten dienen, etwa ein Arrest oder vergleichbare ausländische Verfahren, etwa eine englische ›freezing order‹, ferner Sicherungs- oder Regelungsverfügungen oder vergleichbare ausländische Maßnahmen (EuGH C-186/19 = ECLI:EU:C:2020:638 Rz 49). Die Anordnung der vorläufigen Erbringung einer Leistung ist daher nur dann eine einstweilige Maßnahme, wenn sie zurückzugewähren ist, falls die andere Seite in der Hauptsache obsiegt, und wenn sie nur Vermögensgegenstände betrifft, die sich im Zuständigkeitsbereich des Gerichts befinden (EuGH Slg 98, I-7091; Slg 99, I-2277 Rz 38: zum niederl kort geding). Vorgeschaltete besondere Beweis- oder Beweissicherungsverfahren werden nicht erfasst (EuGH Slg 05, I-3481), ebenso nicht die Gläubigeranfechtungsklage (EuGH Slg 92, I-2149). Eine Einordnung als vorläufige Maßnahme sollte im Übrigen nicht zwingend daran scheitern, dass bereits eine rechtskräftige Entscheidung in der Hauptsache vorliegt, sofern die Maßnahme ihrem Inhalt nach nur vorläufig ist und zudem keine Vollstreckungshandlung darstellt.
Rn 2
Die Zuständigkeit in den Fällen des Art 35 betrifft lediglich die internationale Zuständigkeit; dagegen begründet die Vorschrift keine Erweiterung der sachlichen Zuständigkeit über Art 1 hinaus (EuGH Slg 82, 1189 Rz 12; Slg 92, I-2149 Rz 32; C-186/19 = ECLI:EU:C:2020:638 Rz 51). Maßgebend ist der in der Hauptsache zu beurteilende Anspruch (EuGH C-186/19 = ECLI:EU:C:2020:638 Rz 52). Die Zuständigkeit für Eilmaßnahmen nach Art 35 tritt neben die Zuständigkeit des Hauptsachegerichts hierfür. Die Gerichtsstände der VO für die Hauptsache (Art 4–26) begründen daher auch eine Zuständigkeit für Eilmaßnahmen (EuGH Slg 98, I-7091; Slg 99, I-2277). Das gilt auch für eine prorogierte Zuständigkeit, sofern sich die Gerichtsstandsvereinbarung (wie typisch) auch auf einstweilige Maßnahmen erstreckt (Art 25 Rn 13). Hingegen besteht keine solche Hauptsachezuständigkeit, wenn in der Hauptsache ein Schiedsgericht entscheidet (EuGH Slg 98, I-7091). Die Zuständigkeitsregel des Art 35 wird hingegen durch eine Schiedsvereinbarung nicht ausgeschlossen, soweit die Schiedsvereinbarung die Zuständigkeit staatlicher Gerichte für Eilmaßnahmen nicht wirksam ausschließt (EuGH Slg 98, I-7091).
Rn 3
Im Verhältnis zum nationalen Recht lässt Art 35 Raum für die Anwendung mitgliedstaatlicher Zuständigkeitsregeln. Die Schranken des Art 5 für exorbitante Gerichtsstände gelten insoweit nicht. Art 35 verlangt aber (um eine Anerkennung in anderen Mitgliedstaaten zu ermöglichen), dass zwischen der beantragten Maßnahme und dem Zuständigkeitsbezirk des Gerichts eine ›reale Verknüpfung‹ besteht, etwa durch die Belegenheit der betroffenen Vermögensgegenstände im Zuständigkeitsbereich des Gerichts (EuGH Slg 98, I-7091). Ist das der Fall, sind einstweilige Maßnahmen auch dann möglich, wenn das Gericht der Hauptsache bereits über einen Antrag zum selben Gegenstand entschieden hat (EuGH C-581/20 = ECLI:EU:C:2021:808 Rz 61). Jedoch scheidet Art 2 lit a UnterAbs 2 die nicht am Gericht der Hauptsache ergehenden Entscheidungen ungeachtet des Bestehens oder Nichtbestehens einer ›realen Verknüpfung‹ aus dem Kreis der anerkennungsfähigen Entscheidungen aus (Art 2 Rn 6). Art 35 gilt jedoch nur, wenn der Beklagte seinen Sitz in einem Vertragsstaat hat. Gegenüber Beklagten mit einem Sitz oder Wohnsitz in einem Drittstaat ist Art 6 maßgebend. Die von einem danach zuständigen Gericht erlassenen einstweiligen Maßnahmen sind daher auch in anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen und zu vollstrecken. Ganz allgemein lässt Art 35 das nationale Verfahrensrecht und die dort geregelten Voraussetzungen für einstweilige Maßnahmen unberührt (EuGH C-581/20 = ECLI:EU:C:2021:808 Rz 61).