Prof. Dr. Boris Schinkels
I. Automatische Anerkennung (Abs 1).
Rn 2
Art 36 I statuiert den Grundsatz, dass die Anerkennung von Entscheidungen iSd Art 2 lit a ohne weiteres Verfahren ipso iure erfolgt, wenn die Anwendung der EuGVO eröffnet ist.
II. Wirkung der Anerkennung.
1. Anzuerkennende Entscheidungswirkungen.
Rn 3
Der Begriff der Anerkennung ist in der Verordnung nicht näher definiert. Der EuGH geht traditionell von einer Wirkungserstreckung (näher zum Theorienstreit Kropholler/v Hein Vor Art 33 Rz 9; Rauscher/Leible Rz 4) dergestalt aus, dass eine nach Art 36 ›anerkannte ausländische Entscheidung grds im ersuchten Staat dieselbe Wirkung entfalten muss wie im Ursprungsstaat‹ (EuGH Rs 145/86 – Hoffmann Rz 11, NJW 89, 663, 664; EuGH C-39/02 – Maersk Olie & Gas, IPRax 06, 262 [BGH 20.11.2003 - I ZR 294/02]; vgl auch BGH NJW 22, 2928 [BGH 24.03.2022 - I ZR 52/21]). Hierfür streitet auch Art 54 I UAbs 2 (vgl hierzu Pfeiffer ZZP 14, 409, 427).
2. Umfang der Anerkennung.
Rn 4
Der wichtigste Anerkennungsgegenstand ist die materielle Rechtskraft, auch soweit diese bei ausländischen Urteilen weiter gefasst ist (BGH FamRZ 08, 400). Nach dem Modell der Wirkungserstreckung müssten die objektiven und subjektiven Grenzen der Rechtskraft prima facie aus dem Recht des Urteilsstaats folgen. Der EuGH (C-456/11 – Gothaer Allgemeine Versicherung/Samskip, BeckEuRS 12, 691456) vertritt allerdings einen autonom unionsrechtlichen Rechtskraftbegriff. Die Wirkungserstreckung hat zudem zur Folge, dass auch im Anerkennungsstaat die Rechtskraft der anzuerkennenden Entscheidung einer erneuten Klage auf Leistung entgegensteht; diese ist ggf als unzulässig abzuweisen (EuGH 42/76 – Wolf/Cox NJW 77, 495). Weiterhin erstreckt sich die Anerkennung auch auf die Präklusionswirkung und sogar auf die Gestaltungswirkung ausländischer Entscheidungen selbst dann, wenn das IPR des Urteilsstaates und dasjenige des Anerkennungsstaates ein anderes Sachstatut für maßgeblich erachten (HK-ZPO/Dörner Rz 6). Die Anerkennungswirkung umfasst ferner die Interventions- und die Streitverkündungswirkung jeweils in dem Umfang, in dem sich eine entsprechende Wirkung aus dem Recht des Urteilsstaates ergibt. Dass der Gerichtsstand der Interventionsklage im ersuchten Staat nach Art 65 I nicht gegeben sein mag, ist dabei unerheblich. Hinsichtlich der Vollstreckungswirkung ausländischer Urteile gelten die Art 39 ff. Anders liegt es bei Bündelungsvorgaben des Rechts des Ursprungsmitgliedstaats: Eine französische Vorschrift, wonach alle Ansprüche aus einem Arbeitsvertrag nur Gegenstand eines Verfahrens sind, führt nicht über die Anerkennungswirkung zur Unzulässigkeit eines den Arbeitsvertrag betreffenden Antrags, der bei einem Gericht des Anerkennungsmitgliedstaates gestellt wird (EuGH C-567/21, BNP Paribas SA/TR – BeckRS 23, 12738).
III. Selbstständiges Anerkennungsverfahren (Abs 2).
Rn 5
Aus dem Modell der Anerkennung ipso iure (Abs 1) folgt, dass jedes angerufene Gericht über die Anerkennung als Vorfrage eigenständig entscheiden muss, ohne an die Inzidentanerkennung durch andere Gerichte gebunden zu sein. Dies birgt die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen. Es kann daher – insb bei nicht vollstreckungsfähigen Entscheidungen (Kropholler/v Hein Art 33 Rz 2) – ein Bedürfnis bestehen, die Anerkennungsfähigkeit eines ausländischen Entscheids mit Bindungswirkung feststellen zu lassen. Dem trägt Abs 2 Rechnung, indem er auf Antrag die Feststellung des Nichteingreifens von Versagungsgründen ermöglicht. Wie sich aus dem Wortlaut von Abs 2 ergibt, kann die Feststellung beantragt werden, ›dass keiner der in Artikel 45 genannten Gründe für eine Versagung der Anerkennung gegeben ist‹. Abs 2 ermöglicht damit nur einen hinsichtlich der Versagungsgründe negativen (für die Anerkennung positiven) Feststellungsantrag. Die Möglichkeit eines Antrags auf Anerkennungsversagung ergibt sich demgegenüber bereits aus Art 45 I (vgl ferner Art 45 IV, 38 lit b). Aufgrund des Verweises in Abs 2 richtet sich das Verfahren der Feststellung nach Art 46 ff entsprechend. § 1115 I ZPO sieht die ausschließliche Zuständigkeit des Landgerichts vor. Die örtliche Zuständigkeit folgt aus § 1115 II ZPO. Nicht geregelt ist insoweit der Fall, dass der Schuldner keinen inländischen Wohnsitz hat und eine Zwangsvollstreckung nicht in Betracht kommt. Insoweit erscheint es sinnvoll, auf den Ort abzustellen, dem das Feststellungsinteresse zugeordnet werden kann (Geimer JZ 77, 213); MüKoZPO/Gottwald Rz 24; Kropholler/v. Hein EurZivilProzR Art 33 aF Rz 8). Nach aA ist jedes LG zuständig (BeckOKZPO/Garber Rz 90; St/J/Oberhammer Rz 8). Den Antrag kann jeder ›Berechtigte‹ stellen. Das sind die Parteien des Rechtsstreits, in dem die Entscheidung ergangen ist, ihre Rechtsnachfolger und Dritte, die ein berechtigtes Interesse an der bindenden Feststellung haben (Rauscher/Leible Rz 16). Ein besonderes Feststellungsinteresse iSd § 256 ZPO ist demgegenüber nicht erforderlich (Gebauer/Wiedmann/Gebauer/Berner Rz 9; MüKoZPO/Gottwald Rz 22); hierfür spricht nunmehr auch der Verzicht auf das frühere (vgl Art 33 II aF) Merkmal eines ›Streits‹ über die Anerkennungsfähigkeit.
IV. Inzidentanerkennung (Abs 3).
Rn 6
Aus Abs 3 lässt sich zunächst entnehmen, dass ein Gericht, für welc...