Prof. Dr. Boris Schinkels
Rn 1
Erfasst werden zunächst nur Entscheidungen iSv Art 2 lit a, soweit der Anwendungsbereich der EuGVO eröffnet ist. Die Norm enthält in Abs 1 (iVm Abs 3 S 2) eine abschließende Enumeration der Versagungsgründe für eine Anerkennung (Art 36). Diese sind aufgrund ihres Ausnahmecharakters eng auszulegen (stRspr des EuGH, vgl EuGH–C-7/98 – Krombach/Bamberski, Rz 21, NJW 00, 1853, 1854). Ergänzend verbietet Art 52 ausdrücklich eine sog révision au fond. Ferner enthält die Norm prozessuale Vorgaben für den Antrag auf Versagung der Anerkennung (vgl eingehend Rn 20 ff). Insbesondere wird das Vorliegen der Versagungsgründe nicht vAw, sondern nur auf Antrag (Abs 1, 4) geprüft. Verbreitet wird allerdings in der Lit eine Ausn vom Antragserfordernis für krasse Ordre-Public-Verstöße (hierzu etwa Gebauer/Wiedmann/Gebauer/Berner Rz 2) bzw für überindividuelle Rechtsgüter verfochten, deren Verteidigung gerade nicht im Interesse eines Antragsberechtigten liegen mag (Pfeiffer ZZP 14, 409, 426).B. Gründe für die Versagung der Anerkennung (Abs 1).
I. Verstoß gegen ordre public (lit a).
Rn 2
Lit a trägt dem Umstand Rechnung, dass nach dem derzeitigen Stand der Rechtsangleichung in Europa die Folgen der Anerkennung einer in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung mit der öffentlichen Ordnung eines anderen Mitgliedstaates schlechterdings unvereinbar sein können. Inzwischen verzichten allerdings die EuVTVO, die EuMVVO (VO Nr 1896/2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens) und die EuBagatellVO (VO Nr 861/2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen) auf einen Ordre-public-Vorbehalt (dazu etwa Freitag FS Kropholler 08, 759 ff). Die Regelung zum ordre public in lit a ist ein Auffangtatbestand ggü den speziellen Vorbehalten in lit b–e. Sie ist von dem Spannungsverhältnis geprägt, dass es einerseits Sache der Mitgliedstaaten sein muss, ihre öffentliche Ordnung selbst zu definieren, andererseits aber der EuGH den Begriff des ordre public verordnungsautonom auszulegen hat. Diesem obliegt es daher, die dem Beurteilungsspielraum nationaler Gerichte durch lit a gesetzten Grenzen festzustellen (EuGH C-681/13 – Diageo Brands/Simiramida, Rz 42, EuZW 15, 713; EuGH C-302/13 – flyLAL-Lithuanian Airlines AS, Rz 47, RIW 14, 830; Rauscher/Leible Rz 6; Zö/Geimer Rz 7). Dabei ist lit a eng auszulegen (zur fehlenden Verteidigungsmöglichkeit ggü einem VU mangels Begründung und Art 47 II GR-Charta EuGH C-619/10 – Trade Agency/Seramico, EuZW 12, 912). Daneben kann ein Ordre-Public-Verstoß aus der Missachtung von Vorgaben des Unionsrechts folgen (EuGH (C-681/13 – Diageo Brands/Simiramida, Rz 48, EuZW 15, 714, 715 EuGH C-38/98 – Renault/Maxicar, NJW 00, 2185, 2186). Auch insoweit gilt aber das allgemeine Erfordernis eines ›offensichtlichen‹ Widerspruchs zur öffentlichen Ordnung, weshalb eine Versagung der Anerkennung immer nur in engen Ausnahmefällen in Betracht kommt (EuGH C-420/07 – Apostolides/Orams Rz 55, BeckRS 09, 70441; EuGH C-7/98 – Krombach/Bamberski, Rz 21, NJW 00, 1853, 1854; BGH NJW-RR 12, 1013, 1014 [BGH 14.06.2012 - IX ZB 183/09]). Der EuGH (C-681/13 – Diageo Brands/Simiramida, Rz 64 ff, EuZW 15, 713, 715) berücksichtigt in seiner Abwägung auch, ob der durch einen Rechtsverstoß Belastete alle Rechtsmittel ausgeschöpft hat, die ihm gegen die angegriffene Entscheidung nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats eröffnet waren. Maßstab der Kontrolle sind die Folgen der Anerkennungswirkung. Diese tritt ipso iure ein (Art 36 I), weshalb tw formal folgerichtig auf den Eintritt der grds anerkennungsfähigen Wirkungen im Urteilsstaat abgestellt wird (Zö/Geimer Art 34 Rz 8). Sachgerechtere Ergebnisse verspricht allerdings die Ansicht, dass es auf den Zeitpunkt der konkreten Prüfung der Anerkennungsfähigkeit durch ein Gericht des Vollstreckungsstaates ankomme (Köln NJW-RR 95, 446, 448 [OLG Köln 06.10.1994 - 7 W 34/94]; Kropholler/v Hein Art 34 Rz 10; HK-ZPO/Dörner Rz 4).
Rn 3
Mit Blick auf den in lit a angesprochenen anerkennungsrechtlichen ordre public kann für die deutsche Rechtsordnung die Rspr zu § 328 I Nr 4 ZPO herangezogen werden. Gegen den verfahrensrechtlichen ordre public wird verstoßen, wenn die ausländische Entscheidung das Produkt eines Verfahrens darstellt, welches nach den Maßstäben der deutschen Rechtsordnung nicht als geordnetes rechtsstaatliches angesehen werden kann (BGH NJW 1968, 354, 355 [BGH 18.10.1967 - VIII ZR 145/66]). Zu den unverzichtbaren Anforderungen gehören insb die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts, die Gleichbehandlung der Parteien, ein faires Verfahren (vgl Art 47 II GR-Charta sowie zu Art 6 EMRK als Grundsatz auch des Gemeinschaftsrechts EuGH verb Rs C-174/98 P und C-189/98 P – Niederlande/Kommission, EuZW 00, 346, 349) und rechtliches Gehör (soweit nicht der Anwendungsbereich der Spezialregel in Nr 2 eröffnet ist. Danach ist ein vollständiger Begründungsausfall anstößig (BGH NJW 16, 160, Rz 22 ff). Ein unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens hinreichender Begründungsmangel liegt aber nicht vor, ...