Prof. Dr. Boris Schinkels
1. Versicherungs- und Verbrauchersachen, Individualarbeitsverträge (Ziff i).
Rn 14
Ein Anerkennungshindernis begründet die Verletzung der in Kapitel II Abschn 3 bis 5 geregelten Zuständigkeitsvorschriften in Versicherungs- (Art 10–16) und Verbrauchersachen (Art 17–19) sowie für Individualarbeitsverträge (Art 20–24) durch das Ursprungsgericht. Entsprechend einem rechtsfortbildenden Vorschlag bereits zum EuGVÜ verlangt die reformierte EuGVO allerdings, dass die ›schwächere Partei‹ vor dem Ursprungsgericht die Rolle des Beklagten innehatte. Zur (fehlenden) Anerkennungfähigkeit eines eine Kapitallebensversicherung betreffenden Vergleichsplans (Scheme of Arrangement) nach englischem Gesellschaftsrecht vgl BGH NJW 12, 2352 [BGH 18.04.2012 - IV ZR 147/10].
Rn 15
Ziff i eröffnet nur die Nachprüfung der internationalen, nicht aber der örtlichen oder sachlichen Zuständigkeit (Rauscher/Leible Rz 76). Zur Bindungswirkung tatsächlicher Feststellungen des Ursprungsgerichts vgl Rn 18. Zu beachten bleibt ferner, dass die Art 10 ff, 17 ff, 20 ff durch rügeloses Einlassen (Art 26) überspielt werden können (vgl EuGH C-111/09 – ČPP/Bilas, EuZW 10, 678 [EuGH 20.05.2010 - Rs. C-111/09] [für Versicherungssachen]). Allerdings sieht der neue Art 26 II einen Belehrungsvorbehalt vor. Richtigerweise bleibt bei nicht ordnungsgemäßer Belehrung ein rügeloses Einlassen außer Betracht und der Rückgriff auf Ziff i möglich (so auch v Hein RIW 13, 97, 109).
2. Ausschließliche Zuständigkeiten nach Abschn 6 (Ziff ii).
Rn 16
Die Anerkennung ist ferner zu versagen, wenn das Ursprungsgericht die ausschließlichen Zuständigkeiten des Art 24 missachtet hat. Dieser erfasst allerdings nur Zuständigkeiten von Gerichten der Mitgliedstaaten, so dass eine Versagung der Anerkennung nicht mit der ausschließlichen Zuständigkeit der Gerichte eines Drittstaats begründet werden kann (HK-ZPO/Dörner Rz 31; MüKoZPO/Gottwald Art 35 Rz 15; ThoPu/Hüßtege Rz 30). Umgekehrt wird aber vertreten, dass es der Anerkennung einer Entscheidung aus einem Drittstaat entgegenstehe, soweit aus Sicht eines mitgliedstaatlichen Gerichts Art 24 einschlägig gewesen wäre (Kropholler/v Hein Art 35 Rz 12; dazu auch Rauscher/Leible Rz 78). Zur Bindungswirkung tatsächlicher Feststellungen des Ursprungsgerichts vgl Rn 18. Dass die Frage des Sitzes der Gesellschaft iRd Art 24 Nr 2 der Beantwortung durch das IPR des Forumsstaates zugewiesen ist, kann dazu führen, dass sowohl Ursprungsgericht als auch das Gericht im ersuchten Staat zu dem Ergebnis kommen, dass der entsprechende Sitz in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat liege. Hat das Ursprungsgericht aus seiner Perspektive fehlerfrei seine Zuständigkeit angenommen, so darf die Anerkennung richtigerweise nicht versagt werden; für mehrere Klagen bleibt es danach bei der Regel zeitlicher Priorität nach Art 29 ff (Kropholler/v Hein Art 35 Rz 13; aA Jenard-Bericht ABlEG 79 C-59, S 57).
3. Entfall des Bezugs auf Art 72.
Rn 17
Anders als in der Vorläufervorschrift (Art 35 I aF) wird die Nachprüfbarkeit einer Missachtung von Art 72 (betrifft fortgeltende Abkommen, welche exorbitante Gerichtsstände ausschließen) durch das Erstgericht nicht mehr explizit offengehalten. Das wird mit Blick auf Erwägungsgründe 29 S 4 und 36 teils als Redaktionsversehen eingeordnet (vgl v Hein RIW 13, 97, 109).