I. Vorrang der Scheidungssache (S 1).
Rn 3
§ 123 S 1 regelt den Fall, dass bei einem inländischen Familiengericht eine Scheidungssache und bei einem anderen eine andere Ehesache betreffend dieselbe Ehe, insbesondere ein Verfahren wegen Aufhebung der Ehe nach §§ 1313 ff. BGB, anhängig ist. Gem § 124 FamFG wird das Verfahren in Ehesachen durch Einreichung einer Antragsschrift anhängig. Demgegenüber reicht ein Antrag auf Bewilligung von VKH für ein beabsichtigtes Eheverfahren nicht aus. Wird der VKH-Antrag zusammen mit einem Sachantrag in der Ehesache eingereicht, ist von einer Anhängigkeit der Ehesache auszugehen, wenn der ASt nicht eindeutig klarstellt, dass er den Antrag nur im Fall der Bewilligung von VKH stellen will. In diesem Fall ist die andere Ehesache vAw an das Gericht der Scheidungssache abzugeben. Damit soll der Bedeutung des Scheidungsverbundverfahrens (§§ 137 ff) Rechnung getragen werden (BTDrs 16/6308, 227). Da die anderen Ehesachen andere Verfahrensgegenstände haben, kann der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit der Scheidungssache auch dann nicht entgegengehalten werden, wenn sie das zeitlich nachfolgende Verfahren ist (BTDrs 16/6308, 227; MüKoFamFG/Lugani § 123 Rz 3; ThoPu/Hüßtege § 123 Rz 3; Schulte-Bunert/Weinreich/Roßmann § 123 Rz 8).
II. Prioritätsprinzip bei Rechtshängigkeit gleichrangiger Ehesachen (S 2).
Rn 4
Ein Anwendungsfall des S 1 liegt nicht vor, wenn a) entweder mehr als eine Scheidungssache anhängig ist oder b) ausschließlich Ehesachen iSv § 121 Nr 2 und 3 FamFG anhängig sind. Dann hat die Abgabe nach § 123 S 2 nach dem Prioritätsprinzip an das Familiengericht zu erfolgen, bei dem die zuerst rechtshängig gewordene Ehesache noch anhängig ist. Im Unterschied zu S 1 ist hier erfoderlich, dass zumindest einer der Anträge rechtshängig geworden ist. Durch die angordnete Abgabe vAw kann die Zulässigkeit des zeitlich nachfolgenden Verfahrens nicht am Einwand der entgegenstehenden Rechtshängigkeit scheitern. Werden beide Anträge am selben Tag rechtshängig, ist das zuständige Gericht in analoger Anwendung des ohnehin gem § 113 I anzuwendenden § 36 ZPO zu bestimmen (Prütting/Helms/Helms § 123 Rz 6; MüKoFamFG/Lugani § 123 Rz 6 mwN).
III. Modalitäten und Wirkungen der Abgabe (S 3).
1. Die Abgabeentscheidung.
Rn 5
S 3 ordnet die entsprechende Anwendung des § 281 II, III 1 ZPO an. Zwar gilt gem § 113 I 2 die Vorschrift des § 281 ZPO ›eigentlich‹ vollumfänglich; die ausdrückliche Regelung des § 123 S 3 nimmt die nicht ausdrücklich genannten Teile der Norm wieder aus (vgl auch MüKoFamFG/Lugani § 123 Rz 9). Hieraus folgt, dass Anträge betreffend die Zuständigkeit des Gerichts auch vor dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle abgegeben werden können und dementsprechend nicht dem Anwaltszwang unterliegen, §§ 114 IV Nr 6, 78 III ZPO. Die Abgabe kann zwar gem § 113 I 2 iVm § 128 IV ZPO ohne mündliche Verhandlung ergehen; den Beteiligten ist aber vorher rechtliches Gehör zu gewähren (Prütting/Helms/Helms § 123 Rz 9). Der Abgabebeschluss ist unanfechtbar und für das Gericht, an das abgegeben wurde, bindend, § 281 II 4 ZPO. Die Vorschrift des § 281 II gilt analog auch bereits im VKH-Bewilligungsverfahren; in diesem Fall beschränkt sich die Bindsungswirkung eines ›Verweisungsbeschlusses‹ auf das VKH-Verfahren (BGH FamRZ 91, 1171; Hamm FamRZ 16, 1292). Der Abgabebeschluss enthält keine Kostenentscheidung; das Gericht, an das abgegeben wird, entscheidet einheitlich über die Kosten des Verfahrens. Eine entsprechende Anwendung des § 281 III 2 ZPO ist ausdrücklich ausgenommen. Das hat zur Folge, dass dem ASt nicht zwingend die durch Anrufung des unzuständigen Gerichts entstandenen Mehrkosten aufzuerlegen sind. Dies ist auch im Hinblick auf die für Ehesachen einschlägigen Kostenregelungen der § 132 (Aufhebung der Ehe) und § 150 (Scheidung der Ehe) zu sehen, die im Regelfall eine Kostenaufhebung vorsehen, von der bei Unbilligkeit abgewichen werden kann.
2. Wirkungen der Abgabe.
Rn 6
Das Verfahren wird bei dem Empfangsgericht mit Eingang der Akten anhängig. Durch die Abgabe des Verfahrens an ein anderes Gericht entsteht kein neues Verfahren; es wechselt lediglich den Ort seiner Anhängigkeit und das Aktenzeichen; praktisch zieht es nur um (vgl. Schulte-Bunert/Weinreich/Keske § 6 FamGKG Rz 5). Das bedeutet, dass Verfahrenshandlungen und Rechtshängigkeit fortwirken. Bei Rechtshängigkeit sowohl des ersten als auch des zweiten (abgegebenen) Scheidungsverfahrens ist der Tag der Zustellung des ersten Scheidungsantrags maßgeblich für die hieran anknüpfenden Folgesachen, insb also die Ehezeit iSv § 3 I VersAusglG und der nach § 1384 BGB maßgebende Stichtag für die Berechnung des Zugewinns (zB Prütting/Helms/Helms§ 124 Rz 3).