Rn 11
Gem § 127 II dürfen in Scheidungs- und Aufhebungsverfahren die von den Beteiligten nicht vorgebrachten Tatsachen nur berücksichtigt werden, wenn sie geeignet sind, der Aufrechterhaltung der Ehe zu dienen (›ehefreundliche Tatsachen‹). Das Gericht kann also eheerhaltende Tatsachen vAw uneingeschränkt ermitteln. Diese Beschränkung dient der Aufrechterhaltung der Ehe, da dies aufgrund des besonderen grundrechtlichen Schutzes der Ehe gem Art. 6 I GG einem öffentlichen Interesse entspricht. Ob eine Tatsache ehefeindlich oder ehefreundlich ist, richtet sich nach ihrer Wirkung auf die Ehe nach materiellem Recht im konkreten Fall (zB MüKoFamFG/Lugani § 127 Rz 17; Musielak/Borth/Frank/Borth § 127 Rz 8). Es besteht aber keine generelle Pflicht zur Ermittlung ehefreundlicher Tatsachen (MüKoFamFG/Lugani § 127 Rz 16).
Rn 12
Eheerhaltende Tatsachen können in Scheidungsverfahren bspw eine zu kurze Trennungszeit sein oder konkrete Anhaltspunkte für eine Wiederaufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft über einen längeren Zeitraum (vgl hierzu § 1567 II BGB) oder auch Belange der Kinder, die für eine Aufrechterhaltung der Ehe sprechen können (FAKomm-FamR/Roßmann § 127 Rz 14; Musielak/Borth/Frank/Borth § 127 Rz 8; MüKoFamFG/Lugani § 127 Rz 17; Sternal/Weber § 127 Rz 5).
Rn 13
In Aufhebungsverfahren kann die Bestätigung einer aufzuhebenden Ehe nach § 1315 I Nr 1–4 BGB oder das Zusammenleben iSv § 1315 I Nr 5 BGB als ehefreundliche Tatsache angesehen werden (FAKomm-FamR/Roßmann § 127 Rz 14; Musielak/Borth/Frank/Borth § 127 Rz 8; MüKoFamFG/Lugani § 127 Rz 17; Sternal/Weber § 127 Rz 5). Bei einem Aufhebungsantrag wegen einer Doppelehe (§ 1314 I 1 BGB iVm § 1306 BGB) ist § 127 II nicht anzuwenden, denn Art 6 I GG fordert den Schutz der früher geschlossenen Ehe und nicht den der Doppelehe (J/H/A/Markwardt § 127 Rz 10; BGH FamRZ 94, 498; FamRZ 86, 879).
Rn 14
Ehefeindliche Tatsachen darf das Gericht nach § 127 II berücksichtigen, wenn der ASt nicht widerspricht. Das könnte bspw der Fall sein, wenn das Gericht Anhaltspunkte dafür hat, dass der ASt ein ›Verhältnis‹ hat und dieser nicht möchte, dass es thematisiert wird. Der die Scheidung oder die Aufhebung der Ehe beantragende Ehegatte soll bestimmen können, aufgrund welchen Sachverhalts die Ehe geschieden oder aufgehoben wird (FAKomm-FamR/Roßmann § 127 Rz 17). Die praktische Relevanz wird sich aber in Grenzen halten (Prütting/Helms/Helms § 127 Rz 4: warum sollte er?). Ein Widerspruch ist zwar Verfahrenshandlung, kann auch konkludent ›erklärt‹ werden: Es reicht die Unvereinbarkeit des Tatsachenvortrags des ASt mit den Umständen, die das Gericht vAw seiner Entscheidung zugrunde legen will (Sternal/Weber § 127 Rz 5; ThoPu/Hüßtege § 127 Rz 6; J/H/A/Markwardt § 127 Rz 9; BGH FamRZ 79, 1007: Ehelichkeitsanfechtungsklage). Der Widerspruch ist – da insoweit ehefreundlich – vAw zu berücksichtigen und unterliegt nicht dem Anwaltszwang (Sternal/Weber § 127 Rz 5; J/H/A/Markwardt § 127 Rz 9).