Rn 3
Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot gilt für alle Kindschaftssachen, die
- den Aufenthalt eines Kindes (als Teil der Personensorge, § 1631 I BGB) betreffen. Das können insb Verfahren nach §§ 1628, 1671, 1678, 1680 f BGB sein. Anderes gilt aber, wenn die Eltern zwar (auch) um das Aufenthaltsbestimmungsrecht streiten, nicht aber über den tatsächlichen Aufenthalt ihrer Kinder (Bambg NJW-RR 23, 1364 [OLG Bamberg 20.03.2023 - 7 WF 60/23]).das Umgangsrecht betreffen. Das sind Verfahren, die sich mit der Regelung des Umgangs durch das Gericht nach §§ 164 III, 1684 III, IV, 1685 III, 1686a I Nr 1, II BGB befassen.
- die Herausgabe des Kindes betreffen; also Verfahren nach § 1632 III, IV BGB oder nach § 1682 BGB.
- eine Gefährdung des Kindeswohls betreffen, also solche gem §§ 1666, 1666a, 1667 BGB (vgl die Darstellung in Prütting/Helms/Hammer § 155 Rz 10).
- In Verfahren nach § 1626a II BGB ist § 155 I über die Verweisung in § 155a II 1 anwendbar.
Rn 4
Nicht anwendbar ist das Vorrang- und Beschleunigungsgebot auf Verfahren betreffend die Genehmigung von freiheitsentziehender Unterbringung und freiheitsentziehenden Maßnahmen iSv § 151 Nr 6 und 7; aufgrund der Verweisung in § 167 I sind grds die für Unterbringungssachen Erwachsener geltenden Vorschriften der §§ 312 ff anzuwenden, sodass das Vorrang- und Beschleunigungsgebot gem § 155 I nicht gilt, wenngleich bei der Auslegung der Unterbringungsvorschriften die Wertungen, die in den §§ 155 ff zum Ausdruck kommen, berücksichtigt werden sollten (BGH FuR 13, 219 mwN).
Rn 5
Ist eine Kindschaftssache iR eines Scheidungsverbundverfahrens zu entscheiden, hat die Vorschrift des § 155 besondere Bedeutung, obgleich eine Entscheidung gem § 137 II 1 (erst) für den Fall der Scheidung zu treffen ist. Denn gerade hier besteht ganz besonders die Gefahr, dass eine Kindschaftssache wegen der oft vielfachen und schwierigen Fragen (in anderen Folgesachen) aus dem Blickfeld gerät und stark verzögert bearbeitet wird (Brandbg NJW 19, 3315 [OLG Brandenburg 11.02.2019 - 13 WF 21/19]). Gleichermaßen gilt das Vorrang- und Beschleunigungsgebot in Abänderungsverfahren nach § 1696 BGB, § 166. Gem § 88 III 1 gilt es auch für Vollstreckungsverfahren und selbstverständlich für einstweilige Anordnungsverfahren, die die genannten Regelungsbereiche betreffen (der Gesetzgeber betont dies für das einstweilige Anordnungsverfahren zur Regelung des Umgangs, vgl BTDrs 16/6308, 235). Der Grundsatz ist in allen Rechtszügen und in jeder Lage des Verfahrens zu beachten (zB Braunschw FuR 21, 675), also bspw bei der Anberaumung von Terminen, bei der Fristsetzung für die Abgaben eines Sachverständigengutachtens, vgl § 163 oder bei der Bekanntgabe von Entscheidungen (BTDrs 16/6308, 235). Ist absehbar, dass ein Ehescheidungsverbundverfahren nicht in absehbarer Zeit einer Entscheidung zugeführt werden kann, muss in Bezug auf ein Umgangsverfahren zur Einhaltung des Vorrang- und Beschleunigungsgebotes eine Verfahrensabtrennung erfolgen (Brandbg FuR 18, 261). Ablehnungsgesuche, die als taktisches Mittel für verfahrensfremde Zwecke dienen, sind in Kindschaftssachen iSv Abs 1 besonders kritisch im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot zu beurteilen (München 22.6.17 – 33 WF 238/17, juris).
Rn 6
Aufgrund des Vorranggebots ist das Gericht zur bevorzugten Erledigung der genannten Kindschaftssachen im Notfall auf Kosten anderer anhängiger Sachen verpflichtet (BTDrs 16/6308, 235). Das Vorranggebot wirkt sich unmittelbar in der täglichen Arbeit sowohl des Richters als auch der Geschäftsstelle und selbst der Schreibkraft aus (sofern der Richter nicht ohnehin seine Entscheidungen selbst schreibt), indem die Reihenfolge der zu bearbeitenden Verfahren vorgegeben wird. Allerdings muss gleichwohl noch abgewogen werden: Im Referat eines Familienrichters oder auch Verfahrensbestand eines Senats findet sich regelmäßig eine Vielzahl von Kindschaftssachen, innerhalb derer erneut abgeschichtet werden muss. Zudem wird den Kindschaftssachen nicht immer ein Vorrang vor allen anderen Verfahrensgegenständen eingeräumt werden können: Insb Eilanträge in Gewaltschutzsachen, Wohnungszuweisungsverfahren und Kindesunterhaltsverfahren können von gleicher Bedeutung sein. Nachrangig sind hingegen Ehesachen, VA-Sachen (sofern keine Rentenzahlungen erfolgen), Haushaltssachen, Güterrechtssachen, sonstige Familiensachen iSv § 111 Nr 10 und Unterhaltssachen betreffend den Ehegattenunterhalt. In diesen Verfahren nimmt der Gesetzgeber durch das Vorranggebot letztlich bewusst in Kauf, dass sich deren Verfahrensdauer möglicherweise verlängert (Prütting/Helms/Hammer § 155 Rz 14 mwN; Sternal/Schäder § 155 Rz 5). Wird wegen des Notbetriebs im Familiengericht aufgrund der Corona-Pandemie der Bericht eines Verfahrensbeistandes erst einen Monat nach Eingang bearbeitet, soll hierin jedenfalls dann kein Verstoß gegen das Vorrang- und Beschleunigungsgebot zu sehen sein, wenn die Kinder seit mehr als 3 Jahren keinen Umgang mit ihrem Vater haben (KG NJW 20, 3324 [KG Berlin 25.06.202...