Gesetzestext
(1) Ein Beteiligter in einer in § 155 Absatz 1 bestimmten Kindschaftssache kann geltend machen, dass die bisherige Verfahrensdauer nicht dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot nach der genannten Vorschrift entspricht (Beschleunigungsrüge). Er hat dabei Umstände darzulegen, aus denen sich ergibt, dass das Verfahren nicht vorrangig und beschleunigt durchgeführt worden ist.
(2) Das Gericht entscheidet über die Beschleunigungsrüge spätestens innerhalb eines Monats nach deren Eingang durch Beschluss. Hält das Gericht die Beschleunigungsrüge für begründet, hat es unverzüglich geeignete Maßnahmen zur vorrangigen und beschleunigten Durchführung des Verfahrens zu ergreifen; insbesondere ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zu prüfen.
(3) Die Beschleunigungsrüge gilt zugleich als Verzögerungsrüge im Sinne des § 198 Absatz 3 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes.
A. Allgemeines.
Rn 1
Der durch das Gesetz zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes, der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und des Gerichtskostengesetzes (BGBl I, 2222) neu eingeführte Rechtsbehelf der Beschleunigungsrüge geht auf eine Entscheidung des EGMR vom 15.1.15 (FamRZ 15, 469) zurück. Der EGMR hat aufgrund des Fehlens eines präventiven Rechtsschutzes bei überlanger Verfahrensdauer in einer (mit Vollstreckungs- und Abänderungsverfahren insgesamt 10 Jahre dauernden Umgangssache) eine Verletzung von Art 13 iVm Art 8 EMRK bejaht und der Bundesregierung aufgegeben, in Verfahren, deren Dauer deutliche Auswirkungen auf das Familienleben hat, einen Rechtsbehelf zu schaffen, der sowohl eine präventive als auch eine kompensatorische Wirkung hat. Die bis dahin in den §§ 198 ff GVG vorgesehene Verzögerungsrüge mit anschließender Entschädigungsklage genüge in Verfahren, in denen es um das Recht auf Umgang mit einem (jungen) Kind geht, nicht den Anforderungen, die sich aus Art 13 iVm Art 8 EMRK ergeben.
Rn 2
Nach einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz sollte für die in § 155 I bestimmten kindschaftsrechtlichen Verfahren ein eigenständiger präventiver Rechtsbehelf geschaffen werden, der an das bereits in § 155 I verankerte Vorrang- und Beschleunigungsgebot anknüpft. Mithilfe eines besonderen Zwischenverfahrens soll sichergestellt werden, dass sich das Gericht bereits in dem konkreten Verfahren mit der Verfahrensdauer in einem Beschluss auseinandersetzt (vgl BTDrs 18/9092, 15). Eine Verfassungsbeschwerde wegen Untätigkeit des Gerichts kommt nicht in Betracht, bevor nicht vom Rechtsbehelf der Beschleunigungsrüge und der Beschleunigungsbeschwerde Gebrauch gemacht worden ist; einer Vorabentscheidung nach § 90 II 2 BVerfGG steht der Subsidiaritätsgrundsatz entgegen (BVerfG FamRZ 17, 620). Die Vorschrift ist zum 15.10.16 in Kraft getreten.
B. Die Vorschrift im Einzelnen.
I. Zulässigkeit der Beschleunigungsrüge (Abs 1).
1. Anwendungsbereich (Abs 1 S 1).
Rn 3
Die Vorschrift ist in den vom Vorrang- und Beschleunigungsgebot erfassten Kindschaftssachen iSv § 155 I anzuwenden und betrifft demzufolge Verfahren, die den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht oder die Herausgabe des Kindes betreffen und schließlich Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls. Das gilt auch, wenn die genannten Kindschaftssachen als Folgesachen im Scheidungsverbundverfahren bearbeitet werden, in dem sie wegen oft vielfachen und schwierigen Fragen besonders Gefahr laufen, aus dem Blickfeld zu geraten oder stark verzögert bearbeitet zu werden. Ist absehbar, dass ein Ehescheidungsverbundverfahren nicht in absehbarer Zeit einer Entscheidung zugeführt werden kann, muss zur Einhaltung des Vorrang- und Beschleunigungsgebotes eine Verfahrensabtrennung erfolgen (Brandbg NJW 19, 3315; FuR 18, 261).
Rn 4
Nicht erfasst sind die weiteren Kindschaftssachen iSv § 151 Nr 4–8. Das betrifft auch Verfahren zur Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 155a, in denen der Aufenthalt des Kindes regelmäßig nicht im Streit steht (vgl KG FamRZ 13, 730) und die nicht unmittelbar, sondern lediglich aufgrund der Verweisung in § 155a II 1 dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 I unterfallen (Prütting/Helms/Hammer § 155b Rz 4). Auf Verfahren betreffend die Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung und freiheitsentziehenden Maßnahmen iSv § 151 Nr 6 und 7; sind aufgrund der Verweisung in § 167 I grds die für Unterbringungssachen Erwachsener geltenden Vorschriften der §§ 312 ff anzuwenden, sodass das Vorrang- und Beschleunigungsgebot gem § 155 I dort nicht gilt (Prütting/Helms/Hammer § 155b Rz 4; Dutta/Jacoby/Schwab/Müller § 155b Rz 2), wenngleich bei der Auslegung der Unterbringungsvorschriften die Wertungen, die in den §§ 155 ff zum Ausdruck kommen, berücksichtigt werden sollten (BGH FuR 13, 219 mwN).
Rn 5
Die Beschleunigungsrüge ist in allen Instanzen sowohl im Hauptsacheverfahren als auch im Verfahren der einstweiligen Anordnung (Karlsr FuR 18, 265) statthaft. Dies korrespondiert mit der Regelung des ...