Rn 5
Hinsichtlich des Anwendungsbereichs der VO ist zu unterscheiden: Art 1 regelt den sachlichen (auch: gegenständlichen oder persönlichen) Anwendungsbereich. Ausweislich der Erw 5 schließt dieser Begriff zivilgerichtliche Verfahren und die sich daraus ergebenden Entscheidungen sowie öffentliche Urkunden und bestimmte außergerichtliche Vereinbarungen in Ehesachen und in Sachen der elterlichen Verantwortung ein. Die VO gilt in Bezug auf Ehesachen nur für die Ehe, nicht für andere Verbindungen, wie etwa registrierte verschieden- oder gleichgeschlechtliche Verbindungen. Allerdings ist der Begriff der Ehe – der in der VO nicht definiert wird – wie alle Begriffe der VO autonom – unter Berücksichtigung ihrer Erwägungsgründe und Systematik – auszulegen. Ob die VO nunmehr auch auf gleichgeschlechtliche Ehen Anwendung findet, ist nach wie vor unklar (Gruber/Möller IPRax 20, 393 [399]; ThoPu/Hüßtege Vorb Brüssel IIb-VO Rz 9; zur vormligen Brüssel IIa-VO vgl Überblick bei Mankowski IPRax 17, 541, 546). Für die jeweiligen Ansichten lassen sich mehr oder weniger gewichtige Argumente finden. Die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Deutschland ändert an der gebotenen autonomen Auslegung allerdings nichts. Zur Vermeidung unterschiedlicher internationaler Zuständigkeit sollte auch für solche Ehen eine internationale Zuständigkeit nach der VO bejaht werden. Ansonsten hilft nur der Rückgriff auf § 98 FamFG. Ob allerdings überhaupt eine Ehe wirksam zustande gekommen ist, ist eine selbständig anzuknüpfende Vorfrage (Ddorf FamRZ 21, 1461).
Rn 5a
Die VO sieht nunmehr explizit die Anerkennung einer Privatscheidung vor (zu Privatscheidungen in Europa vgl Antomo StAZ 20, 33; Gruber/Möller IPRax 20, 393, 401). Allerdings hat der EuGH (FamRZ 23, 21 = ECLI:EU:C:2022:879: Italien) unter der Geltung der Brüssel IIa-VO entschieden, dass auch außergerichtliche Vereinbarungen der Parteien dem Anerkennungsregime der Art 21 ff Brüssel IIa-VO unterfallen, sofern eine Behörde eine Prüfung der Scheidungsvoraussetzungen – in Abgrenzung zu einem zwischen den Beteiligten geschlossenen Vergleich, den das Gericht ohne inhaltliche Prüfung lediglich zur Kenntnis nimmt – anhand des nationalen Rechts vornimmt (ergänzend BGH FamRZ 23, 1103; Anm Dimmler FamRB 23, 442). Der Anwendungsbereich der Art 65 ff Brüssel IIb-VO verkürzt sich deshalb auf diejenigen Privatscheidungen, bei denen eine behördliche Prüfung bzw Kontrolle nicht vorgenommen wird (vgl auch Dutta FamRZ 23, 16, 17 zu weiteren Privatscheidungen in den Mitgliedstaaten). Privatscheidungen aus Drittstaaten werden dagegen von der VO nicht erfasst (EuGH FamRZ 18, 169 = ECLI:EU:C:2017:988; BGH FamRZ 20, 1811; Anm Dimmler FamRB 20, 471). Kirchliche Entscheidungen werden jedenfalls von dieser VO nicht erfasst (zur religiösen jüdischen Scheidung als gerichtliche Scheidung Elmaliah/Thomas FamRZ 18, 739, 745). Die Zuständigkeitsnormen der VO gelten ohne Ansehung der Staatsangehörigkeit der Beteiligten (Stuttg FamRZ 04, 1382; Kobl FamRZ 09, 611, 612), zugleich muss nicht zwingend ein kompetenzrechtlicher Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat vorliegen (EuGH NJW 19, 415 Rz 41 = ECLI:EU:C:2018:835 Anm Dimmler FamRB 18, 474; BGH FamRZ 08, 1409).
Rn 6
Der räumliche (oder: territoriale) Anwendungsbereich (dazu auch Andrae IPRax 06, 82) ergibt sich vereinfacht aus Art 2 Nr 3 (alle EU-Mitgliedstaaten außer Dänemark) und im Detail – zB betreffend die überseeischen Departements Frankreichs – aus Art 355 AEUV, in dem das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten genau definiert wird. Mit dem Ablauf des 31.12.20 ist auch das VK nicht mehr Mitgliedstaat, sondern Drittstaat (aber jedenfalls KSÜ-Mitgliedstaat). Vor dem 31.12.20 beantragte Scheidungen im VK können allerdings auch nach dem Ablauf des 31.12.20 nach den Vorschriften der Art 21 ff der vormaligen Brüssel IIa-VO anerkannt werden (vgl Art 67 II lit b des Abkommens v 24.1.20 über den Austritt des VK aus der EU, ABl 20 L 29, geändert durch Beschl v 12.6.20, ABl 20 L 225 S 7; Mankowski NZFam 21, 237; Gottwald FamRZ 20, 965; Dutta StAZ 20, 65; Niethammer-Jürgens IWRZ 19, 106; zum Sorgerecht Zühlsdorff JAmt 20, 606, 607). Die Zwergstaaten Andorra, San Marino und Monaco gehören ebenso wenig wie der Vatikanstaat zur EU.
Rn 7
Der zeitliche Geltungsbereich folgt aus Art 105 II (ab 1.8.22) und Art 100 (Übergangsvorschrift; Rn 1). Für die nach dem 1.8.22 der EU beitretenden Staaten ist die VO indes frühestens ab dem Tag ihres Beitritts anwendbar (vgl EuGH FamRZ 10, 2049 zur Brüssel II-VO [VO Nr 1347/2000]).
Rn 8
Im Einklang mit der bisherigen Rspr des EuGH (FamRZ 15, 2117) ist der Begriff ›Zivilsachen‹ weit auszulegen (Erw 5), weshalb auch die Inobhutnahme eines Kindes nach Öffentlichem Recht eine Zivilsache ist.