Gesetzestext
(1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Anträge auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zwischen denselben Parteien gestellt, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.
(2) Sofern sich die Zuständigkeit eines der Gerichte nicht nur auf Artikel 15 stützt und bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht werden, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.
(3) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig.
In diesem Fall kann die Partei, die das Verfahren bei dem später angerufenen Gericht anhängig gemacht hat, dieses Verfahren bei dem zuerst angerufenen Gericht vorlegen.
(4) Wird ein Gericht eines Mitgliedstaats angerufen, dem durch eine Anerkennung der Zuständigkeit nach Artikel 10a die ausschließliche Zuständigkeit übertragen wurde, so setzen die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats das Verfahren so lange aus, bis das auf der Grundlage der Vereinbarung oder Anerkennung angerufene Gericht erklärt hat, dass es gemäß der Vereinbarung oder Anerkennung nicht zuständig ist.
(5) Sobald und soweit das Gericht die ausschließliche Zuständigkeit durch eine Anerkennung der Zuständigkeit nach Artikel 10 festgestellt hat, erklären sich die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.
A. Normzweck und Regelungsgehalt.
Rn 1
Diese Vorschrift – die gemeinsam mit Art 17 zu lesen ist – hat erhebliche praktische Bedeutung und bietet Rechtsanwälten ein weites Feld zu taktischer Verfahrensführung (s dazu Rn 10). Sie regelt – jedoch (Wortlaut) nur im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander (München FamRZ 14, 862: daher nicht in einem einzigen Mitgliedstaat), nicht im Verhältnis zu Drittstaaten (abzustellen ist in solchen Konstellationen auf die lex fori, dazu und zur Anerkennungsprognose Amos/Dutta FamRZ 14, 444, 446 f; vgl auch Court of Appeal [2013] EWCA Civ. 1255 sowie OGH v 22.11.11 – 80b116/11h) – die Fälle der Litispendenz, also solche, in denen zwischen denselben Parteien je eine Ehesache (Abs 1) bzw bzgl desselben Kindes je eine Sache betreffend die elterliche Verantwortung (Abs 2) in mehreren Mitgliedstaaten rechtshängig ist.
Rn 2
Das zweitbefasste (s dazu Art 17) Gericht muss nach Abs 1 bzw Abs 2 das bei ihm anhängige Verfahren vAw aussetzen (in Deutschland: analog § 21 FamFG bzw § 113 I FamFG iVm 148 ZPO), bis das erstbefasste idR rechtskräftig (NK-BGB/Gruber Art 19 Brüssel IIa-VO Rz 16; s hierzu auch Rn 10) über seine Zuständigkeit befunden hat (hierzu pointiert krit Rauscher/Rauscher Art 19 Brüssel IIa-VO Rz 25). Allerdings kann es für die Klärung der Zuständigkeitsfrage bereits genügen, dass sich das zuerst angerufene Gericht nicht vAw für unzuständig erklärt und kein Beteiligter iRd ersten Verteidigungsvorbringens die internationale Unzuständigkeit rügt (EuGH FamRZ 15, 2036; Anm Dimmler FamRB 16, 43). In Ansehung dessen kann ein VKH-Antrag nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass die internationale Zuständigkeit zwar vorliegt, das Gericht nur zweitbefasst ist und das erstbefasste Gericht seine Erstbefassung bejahen wird. Denn diese Begründung greift der allein dem aus Sicht des zweitbefassten Gerichts erstbefassten Gericht zu. Hier ist – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – VKH zu bewilligen und das Verfahren auszusetzen (Stuttg FamRZ 16, 1601; Karlsr FamRZ 11, 1528; aA allerdings Zweibr FamRZ 06, 1043, 1044 aE; Heiter FamRZ 14, 861).
Rn 3
Lehnt das zuerst angerufene Gericht seine Zuständigkeit ab, so kann das zweite Gericht in der Sache entscheiden. Ist dieses aber von vornherein international nicht zuständig, so liegt kein Fall des Art 20 vor; denn dieser will nur den positiven Kompetenzkonflikt regeln. Das zweitbefasste Gericht muss also dann nicht etwa zuwarten, sondern kann sich nach Art 18 unmittelbar zugunsten des erstangerufenen Gerichts für unzuständig erklären und den Antrag als unzulässig abweisen.
Rn 4
Stellt das erstangerufene Gericht seine Zuständigkeit fest (diese Zwischenentscheidung ist selbstständig anfechtbar, Oldbg FamRZ 13, 481; Stuttg FamRZ 14, 1530), so muss das zweitbefasste sich zugunsten jenes vAw für unzuständig erklären (Abs 3 S 1) und den Antrag als unzulässig abweisen (Stuttg FamRZ 18, 1596; NK-BGB/Gruber Art 19 Brüssel IIa-VO Rz 19). Das später angerufene Gericht darf sein Verfahren auch dann nicht fortsetzen, wenn es der Ansicht ist, das zuerst angerufene Gericht habe seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen (High Court Ireland v 27.7.10 – IEHC 303). Der Antragsgegner kann aber dann nach Abs 3 S 2 seinen Antrag dem erstbefassten Gericht vorlegen. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist all...