Gesetzestext
(1) Soweit sich aus den Artikeln 3, 4 und 5 keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats ergibt, bestimmt sich vorbehaltlich des Absatzes 2 die Zuständigkeit in jedem Mitgliedstaat nach dem Recht dieses Staats.
(2) Gegen einen Ehegatten, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat oder Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf ein Verfahren vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur nach Maßgabe der Artikel 3, 4 und 5 geführt werden.
(3) Jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat, kann die in diesem Mitgliedstaat geltenden Zuständigkeitsvorschriften wie ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats gegenüber einem Antragsgegner geltend machen, der weder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat noch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt.
Rn 1
Der Rückgriff auf (nachrangige) nationale Zuständigkeitsvorschriften, den Art 6 I ermöglicht, soll auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Zu diesem Zweck ordnet Art 6 II an, dass gegen einen Ehegatten, der entweder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hat oder dessen Staatsangehöriger er ist, ein Verfahren vor einem Gericht eines anderen Mitgliedstaates nur geführt werden kann, wenn dieser andere Verordnungsmitgliedstaat nach den Art 3–5 international zuständig ist (vgl EuGH FamRZ 22, 1466 = ECLI:EU:C:2022:619; Anm Dimmler FamRB 22, 423; ein Sorgerechtsverfahren kann dagegen im Heimatstaat geführt werden; die Beteiligten hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Togo). Die Sperrwirkung des Art 6 II ist auch bei einer mehrfachen Staatsangehörigkeit zu beachten. Auf die Effektivität kommt es gerade nicht an (vgl EuGH FamRZ 09, 1571 zu Art 3 I lit b Brüssel IIa-VO; NK-BGB/Gruber Art 7 Brüssel IIa-VO Rz 7). Auch bei einem gemeinsamen Antrag ist ggf die Sperre des Art 6 zu beachten (näher NK-BGB/Gruber Art 7 Brüssel IIa-VO Rz 8). Ob Art 6 II zurückzustehen hat, sofern die Sperrwirkung zu einer Rechtsverweigerung wegen der nicht vorgesehenen Möglichkeit einer Scheidung führt, konnte der BGH (FamRZ 13, 687 m Anm Hau) zu Recht dahinstehen lassen. In Europa haben zwischenzeitlich alle Mitgliedstaaten die Zugangsvoraussetzungen für eine Scheidung geregelt. Art 6 I bestimmt, dass (nur), wenn keine Zuständigkeit eines Gerichts (irgend-)eines Verordnungsmitgliedstaates nach den Art 3–5 der VO besteht, das angerufene Gericht seine Zuständigkeit nach seinem nationalen Recht bestimmen kann.
Rn 2
Praxisrelevant hat der EuGH zur vormaligen Brüssel IIa-VO (FamRZ 08, 128; s.a. Anm Borrás IPRax 08, 233) entschieden, dass Art 6 so auszulegen ist, dass, sofern der Antragsgegner in einem Ehescheidungsverfahren weder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat noch die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzt, die Gerichte eines Mitgliedstaats ihre Zuständigkeit für die Entscheidung über den entsprechenden Antrag nicht aus ihrem nationalen Recht herleiten können, sofern die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nach Art 3 zuständig sind. Hatte also etwa der sich zurzeit gewöhnlich in Argentinien aufhaltende argentinische Antragsgegner zuvor mit seiner den Scheidungsantrag stellenden deutschen Ehefrau einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt in Spanien, wobei die Ehefrau weiterhin in Spanien lebt, so ist wegen Art 6 I – in seiner Auslegung durch den EuGH – dem angerufenen deutschen Gericht der Rückgriff auf § 98 FamFG versperrt, und es ist Art 3 lit a sublit ii maßgebend. Ein Rückgriff auf § 98 FamFG ist allerdings aufgrund der Nicht-EU-Staatsangehörigkeit des Mannes möglich, sofern die Ehefrau nach Deutschland übersiedelt und sogleich einen Scheidungsantrag stellt. Weiterhin ist § 98 FamFG anzuwenden, wenn die Eheleute in einem Nichtmitgliedsstaat leben, der Antrag in Deutschland gestellt wird und ein Ehegatte nicht die EU-Staatsangehörigkeit besitzt. Der österreichische OGH hat folgenden weiteren Fall entschieden: Die Antragstellerin, Österreicherin, und der italienische Antragsgegner lebten in der Schweiz. Bei Trennung zog die Antragstellerin nach Österreich, wo sie vor Ablauf der Sechsmonatsfrist des Art 3 lit a sublit vi die Scheidung einreichte. Der OGH lehnte – ebenfalls noch vor Ablauf dieser Frist – hier zutr einen Rückgriff auf die nationalen Zuständigkeitsvorschriften (Art 6 I) ab, weil es wegen der italienischen Staatsangehörigkeit des Antragsgegners eine Sperrwirkung des Art 6 II annahm, da die österreichischen Gerichte nach den Art 3–5 nicht zuständig waren (OGH Wien IPRax 10, 74; Anm Andrae/Schreiber IPRax 10, 79).
Rn 3
Art 6 III VO stellt einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hat, einem Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates gleich, wenn der Antragsgegner weder einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat noch eine Staatsangehörigkeit eines Mitglieds...