Gesetzestext
Vorbehaltlich des Artikels 10 bleiben bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und
a) |
jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat oder |
b) |
das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:
i) |
Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem das Kind zurückgehalten wird; |
ii) |
ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Rückgabeantrag wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt; |
iii) |
ein vom Sorgeberechtigten gestellter Rückgabeantrag wurde von einem Gericht eines Mitgliedstaats aus anderen als den in Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe b oder Artikel 13 Absatz 2 des Haager Übereinkommens von 1980 angegebenen Gründen abgelehnt und gegen diese Entscheidung kann kein ordentlicher Rechtsbehelf mehr eingelegt werden; |
iv) |
in dem Mitgliedstaat, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde kein Gericht angerufen, wie in Artikel 29 Absätze 3 und 5 vorgesehen; |
v) |
von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wurde. |
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Rn 1
Im Fall eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes (näher Art 22 Rn 1) soll Art 9 – gegenüber Art 7 I vorrangig (s Art 7 Rn 1) – den Vorrang des Herkunftsmitgliedstaats für die Sorgerechtsentscheidung sichern (EuGH FamRZ 18, 1430 = ECLI:EU:C:2018:220; Anm Dimmler FamRB 18, 392). Denn das Kind kann im Zufluchtsmitgliedstaat einen – wenn auch infolge rechtswidrigen Verbringens oder Zurückhaltens – neuen gewöhnlichen Aufenthalt erwerben (die Definition ist dieselbe wie in Art 7 I, s dazu EuGH FamRZ 11, 617; Anm Mankowski GPR 11, 209; Saarbr FamRZ 11, 1235 und Art 7 Rn 2; s zum Begriffsinhalt in HKÜ-Fällen, in denen die VO nicht anwendbar ist, Frankf FamRZ 06, 883), sodass Art 7 I greifen würde, wenn nicht Art 9 die sich aus Art 16 HKÜ ergebende Zuständigkeitssperre fortschreiben würde. Dagegen verbleibt es bei Art 7 I, sofern der gewöhnliche Aufenthalt erst nach Antragstellung begründet wird (perpetuatio fori, NK-BGB/Gruber Art 10 Brüssel IIa-VO Rz 10). Kind iSd Art 9 der VO ist auch dasjenige, das die Altersgrenze des HKÜ von 16 Jahren erreicht hat (so zutr Siehr IPRax 10, 583 gegen OGH v 18.9.09 – 6 Ob 181/09z – mwN), sodass bei widerrechtlichem Verbringen eines 16 Jahre alten Kindes zwar der Rückführungsmechanismus der VO und des HKÜ nicht mehr greift, aber die internationale Zuständigkeit des Ursprungsstaats nach Maßgabe von Art 9 der VO erhalten bleibt. Die Sperre des Art 9 erfasst alle Entscheidungen betreffend die elterliche Verantwortung, außer freilich die Entscheidung über die Rückgabe des Kindes, die den Gerichten des Staats vorbehalten ist, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde bzw in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird. Art 9 gilt nur im Verhältnis zweier Mitgliedstaaten zueinander, nicht im Verhältnis eines Mitgliedstaats zu einem Drittstaat (zur Brüssel IIa-VO EuGH FamRZ 21, 777 m Anm Höhn = ECLI:EU:C:2021:231 [Indien]; Anm Dimmler FamRB 21, 238). Bei einer Entführung in einen Drittstaat gelangen die staatsvertraglichen Regelungen des KSÜ bzw MSA zur Anwendung (zu Art 7 KSÜ vgl Karlsr FamRZ 18, 920), hilfsweise § 99 FamFG (so auch Hausmann Art 10 Brüssel IIa-VO Rz F 136).
Rn 2
Art 9 lit b sublit i–ii, iv sanktioniert vornehmlich die Passivität der jeweiligen sorgeberechtigten Person (Hausmann Art 10 Brüssel IIa-VO Rz F 144). Ein bloßes Untätigbleiben des zurückgebliebenen Elternteils stellt keine Zustimmungserklärung dar (Rauscher/Rauscher Art 10 Brüssel IIa-VO Rz 20). Der erforderliche Aufenthalt des Kindes von einem Jahr seit der Entführung in lit b meint keinen gewöhnlichen, sondern den – insoweit ausreichenden – schlichten Aufenthalt (Solomon FamRZ 05, 1409, 1417). Bei mehreren sorgeberechtigten Personen ist auf die Kenntnis eines Trägers der elterlichen Sorge abzustellen. Grob fahrlässiges Verschließen hinsichtlich des neuen Aufenthaltsortes des Kindes genügt für die Kenntnis. Die wesentlichen Umstände des neue...