I. Zweck und Geschichte des Gesetzes.
Rn 1
Vorgänger der heutigen Gesetzesfassung war das KapMuG von 2005 (Kommentierung S 4. Auflage, Übergangsregelung s § 27 KapMuG), welches vor dem Hintergrund zahlreicher zT bis heute anhängiger Prospekthaftungsklagen gegen die Deutsche Telekom (vgl BGH ZIP 15, 25 sowie BGH ZIP 21, 508) geschaffen wurde. Das Gesetz verfolgt im wesentlichen vier zT gegenläufige Ziele: Verbesserung des Rechtsschutzes für geschädigte Kapitalanleger, Entlastung der Justiz bei Massenverfahren, Durchsetzung des objektiven Kapitalmarktrechts sowie Stärkung des Börsen- und Justizstandorts Deutschland im Vergleich zu alternativen Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung im Ausland (BTDrs 15/5091, 16 f).
Rn 2
Nach Evaluation und Diskussion (Reformvorschläge zB bei Bergmeister 303 ff; Halfmeier/Rott/Feess 80 ff) wurde das KapMuG 2012 neu gefasst (BTDrs 17/10160) und später bis 31.8.24 verlängert. Vgl zum fortbestehenden Reformbedarf und zum RefE 2024 Reuschle BKR-Beilage 24, 3.
II. Rechtsvergleichende Einordnung.
Rn 3
Die internationale Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist durch zahlreiche Varianten des kollektiven Rechtsschutzes gekennzeichnet (vgl nur Koch JZ 11, 438). Dabei wird gewöhnlich zwischen opt-out- und opt-in-Sammelklagen unterschieden. Das KapMuG nimmt dagegen eine im Rechtsvergleich auffällige Sonderstellung ein, weil es als Zwangsverfahren ausgestaltet ist. Ihm kann sich der einzelne Kl nicht entziehen, wenn einmal ein Musterverfahren in der ihn betreffenden Angelegenheit durchgeführt wird (§ 8 KapMuG). Will ein Kl am Musterverfahren nicht teilnehmen, so kann er allenfalls seine Klage zurücknehmen und damit ganz auf die Verfolgung seiner Rechte verzichten. Diesem Zwangscharakter korrespondieren umfangreiche Verfahrensrechte für alle Beteiligte, welche ein Massenverfahren nach dem KapMuG in der Praxis schwerfällig machen können (dazu Stackmann NJW 10, 3581 [BGH 23.09.2010 - IX ZR 212/09]). Eine weitere Besonderheit des KapMuG besteht in seinem zweistufigen Charakter als Vorlageverfahren: Die Klägergruppe wird nicht an einem erstinstanzlichen Gericht konzentriert, sondern das Musterverfahren wird zum übergeordneten OLG emporgehoben (§ 6 KapMuG) und wirkt sich dann mit seinen Feststellungen wiederum auf der Ebene des Prozessgerichts in den Einzelverfahren aus (§ 22 KapMuG).
III. Prozesstaktische Überlegungen bei Nutzung des KapMuG.
Rn 4
Aus Klägerperspektive bietet das neue KapMuG mit der Anmeldung von Ansprüchen (§ 10 II–IV KapMuG) die Möglichkeit der Senkung des Kostenrisikos, indem ein Teil der Ansprüche eingeklagt und der Rest nur angemeldet wird. Allerdings ist das Zeitfenster für die Anmeldung (s § 10 Rn 4) recht eng und kann nicht immer rechtzeitig geöffnet werden, um die Verjährung zu verhindern. Außerdem muss bei Trennung von Anmeldung und Klageerhebung die Klägergruppe sich ggf intern organisieren, um eine für alle akzeptable Verteilung des Kostenrisikos zu erreichen. Der Aufbau einer Drohkulisse von ggf unbegründeten Anspruchsanmeldungen (so die Befürchtungen bei v. Bernuth/Kremer NZG 12, 890, 891; Schneider/Heppner BB 12, 2703, 2712) ist jedenfalls nicht kostenfrei zu haben, vgl § 10 Rn 7. Strebt der Klägeranwalt im eigenen Interesse einen zügigen Vergleich (§ 17 ff KapMuG) an, so muss das Gericht im Rahmen der Genehmigung des Vergleichs darauf achten, dass die Mandanteninteressen gewahrt bleiben. Ein umstrittener Vergleich kann außerdem zur Spaltung der Klägergruppe und zahlreichen Austritten (§ 19 II KapMuG) führen.
Rn 5
Aus Beklagtenperspektive ist eine strikte Verteidigung ohne Vergleichsbereitschaft weiterhin eine valide Option. Verzögerungen im ersten Verfahrensstadium können für den Beklagten positiv sein, wenn damit das Anmelde-Zeitfenster des § 10 II KapMuG über den Zeitpunkt des Verjährungseintritts hinausgeschoben wird. Nutzt die Klägerseite das Instrument der Anmeldung, so kann dies das Netto-Kostenrisiko für den Beklagten erhöhen, weil er dann im Falle des Obsiegens eine geringere Kostenerstattung erhält (nämlich nur auf die eingeklagten Beträge bezogen) und bei Unterliegen mit weiteren Klagen durch die Anmelder rechnen muss. Will der Beklagte dagegen im Rahmen einer kooperativen Strategie durch einen Vergleich abschließenden Rechtsfrieden (finality) erreichen, so ist dies angesichts der Dreiteilung der Klägergruppe nicht ganz einfach (s dazu § 17 KapMuG Rn 7).