Rn 2
Der BGH hat sich für ein sehr enges Verständnis der ›Abhängigkeit‹ iSd Abs 1 S 1 ausgesprochen: Diese solle nur dann vorliegen, wenn aus Sicht des Prozessgerichts feststeht, dass es für die Entscheidung auf bestimmte im Musterverfahren zu klärende Feststellungsziele konkret ankommen wird, ggf sei vorher zu anderen Fragen auch eine Beweisaufnahme durchzuführen (BGH NJW 19, 3444, 3446 [BGH 30.04.2019 - XI ZB 13/18]; vgl zu den Konsequenzen Waßmuth/Asmus BKR 21, 15, 18; gegen die Auffassung des BGH nun überzeugend München NZG 22, 1632, 1640; Klöhn/Zell ZIP 24, 321). Demgegenüber ging die Gesetzesbegründung noch davon aus, dass das Gericht bei dieser Frage einen gewissen Beurteilungsspielraum haben müsse (BTDrs 17/8799, 20; ebenso Vorwerk/Wolf/Fullenkamp Rz 13; Oldbg ZIP 19, 465; München ZIP 18, 327).
Rn 3
Für die Auffassung des BGH spricht, dass jedem Anspruchsteller ein faires und zügiges Verfahren zu gewähren ist. Dieser Grundsatz wäre verletzt, wenn ein Prozess gem § 8 ausgesetzt würde, obwohl es im konkreten Falle aufgrund individueller Besonderheiten gar nicht auf das Ergebnis des ggf langwierigen Musterverfahrens ankommt. Jedoch ist diese Überlegung abzuwägen mit dem vom KapMuG verfolgten Ziel der Effizienz und der Justizentlastung. Dieser Zweck wäre gefährdet, wenn das Gericht in ggf Tausenden Einzelfällen zunächst sämtliche behaupteten individuellen Besonderheiten überprüfen müsste (ggf mit Beweisaufnahme), bevor es eine Aussetzungsentscheidung treffen kann. Bei der Beurteilung der Aussetzungsvoraussetzungen ist daher vom Prozessgericht eine Abwägung zwischen dem Effizienzziel des KapMuG einerseits und der Berücksichtigung individueller Besonderheiten andererseits vorzunehmen (zutr München NZG 22, 1632, 1640 [OLG München 19.09.2022 - 8 U 8302/21]). Dabei sind zunächst solche Fälle auszuscheiden, in denen die Klage offensichtlich abweisungsreif ist, ohne dass es einer (weiteren) Beweisaufnahme bedürfte, etwa wegen eindeutiger Unzulässigkeit (so im Falle anderweitiger Rechtshängigkeit, BGH NJW-RR 15, 299) oder Unbegründetheit (bei eindeutiger Verjährung, BGH NJW 09, 2539; BGH ZIP 16, 436); diese Verfahren dürfen nicht ausgesetzt werden. Bedarf es aber für die Beurteilung von Zulässigkeit oder Begründetheit einer noch durchzuführenden Beweisaufnahme oder der Beantwortung komplexer Rechtsfragen, so spricht das Effizienzziel des KapMuG – wohl entgegen der Auffassung des BGH – für eine Aussetzung. Die Auffassung, dass vor einer Aussetzungsentscheidung immer erst über die Zulässigkeit der Klage entschieden werden müsse (KK-KapMuG/Kruis Rz 33), überzeugt daher nicht, da auch Zulässigkeitsfragen komplexe tatsächliche oder rechtliche Probleme aufwerfen können. In derartigen Fällen entspräche es nicht dem durch das KapMuG verfolgten Ziel der Verfahrenseffizienz und der Entlastung der Gerichte in Massenverfahren, wenn diese Fragen in jedem Einzelfall vor der Aussetzungsentscheidung erschöpfend geklärt werden müssten (vgl LG Stuttg WM 18, 667 zur Aussetzung trotz bestrittener Parteifähigkeit; aA Braunschw NZG 20, 1182, wonach vor der Aussetzung zunächst eine Beweisaufnahme zur bestrittenen Aktivlegitimation des Klägers stattfinden müsse). Eine gem § 8 vorgenommene Aussetzung kann außerdem zurückgenommen werden, wenn das Musterverfahren nicht vorankommt und im Ausgangsverfahren Entscheidungsreife eingetreten ist (LG Stgt 24.10.18 – 22 O 348/16).