Rn 6
Das Mündlichkeitsprinzip selbst ist durch die Verfassung nicht zwingend vorgegeben (St/J/Kern Rz 6; R/S/G § 79 Rz 8). Insbesondere folgt aus dem durch Art 103 I GG geschützten Anspruch auf rechtliches Gehör (Einl Rn 44) nicht die Mündlichkeit des Verfahrens. Rechtliches Gehör kann nach allgemeiner Meinung vielmehr auch schriftlich gewährt werden (BVerfG NJW 94, 1043; St/J/Kern Rz 7).
Die Mündlichkeit des Verfahrens ist mittelbar durch die Garantie der Öffentlichkeit (§ 169 GVG, Art 6 I EMRK) geschützt (St/J/Kern Rz 6). Nunmehr enthält auch Art 47 GRCh eine grundrechtliche Absicherung der Mündlichkeit. Nach der Rspr des EGMR gewährleistet Art 6 I EMRK die Öffentlichkeit und damit die mündliche Verhandlung aber nicht uneingeschränkt für alle gerichtlichen Verfahren und Verfahrensabschnitte. Eine mündliche Verhandlung vor den Tatsacheninstanzen ist vielmehr dann nicht erforderlich, wenn diese nicht beantragt wurde oder der Gegenstand des Verfahrens keine Fragen von öffentlicher Bedeutung aufwirft. Zudem ist den Anforderungen von Art 6 I EMRK an eine angemessene Verfahrensdauer Rechnung zu tragen (EGMR NJW 03, 1921 [EGMR 06.12.2001 - 31178/96]). Hiernach stehen insb Abs 2 und § 495a im Einklang mit Art 6 I EMRK, weil nach diesen Vorschriften gegen den Willen der Parteien nicht ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (St/J/Kern § 128 Rz 7; zu § 495a auch BVerfG NJW 12, 2262 [BVerfG 05.04.2012 - 2 BvR 2126/11]). Ferner gebietet Art 6 I EMRK die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung nicht, wenn über Zwischenfragen oder die Verfahrenskosten entschieden wird. Das Gleiche gilt für Entscheidungen über die Zulässigkeit eines Rechtsmittels (Celle NJW 02, 2800; St/J/Kern Rz 7). Hiernach kann die Berufung auch dann durch Beschl gem § 522 II zurückgewiesen werden, wenn die angefochtene Entscheidung im schriftlichen Verfahren (Abs 2) ergangen ist (Celle NJW 02, 2800; Braunschw ZIP 03, 1154; St/J/Kern Rz 7).
Der Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens steht zudem im engen sachlichen Zusammenhang mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz (§§ 285, 355). Hiernach müssen schriftliche Sachverständigengutachten und Zeugenaussagen (§ 377 III) und der Inhalt beigezogener Urkunden oder Akten vor der Verwertung zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden. Das Gleiche gilt für gerichtsbekannte (§ 291) und im Geltungsbereich des Untersuchungsgrundsatzes vAw zu berücksichtigende Tatsachen. Über das Ergebnis einer auswärtigen Beweisaufnahme haben die Parteien gem § 285 II vorzutragen (Musielak/Voit/Stadler Rz 3; Zö/Greger Rz 1). Urteile dürfen nur von denjenigen Richtern gefällt und Beschlüsse nur von denjenigen Richtern getroffen werden, die an der letzten mündlichen Verhandlung teilgenommen haben (§§ 309, 329 I 2).