I. Formelle Prozessleitung.
1. Überblick.
Rn 2
Abs 1, 2 und 4 treffen Regelungen zur formellen Prozessleitung, die dem Vorsitzenden obliegt. Danach hat er einen ordnungsgemäßen äußeren Ablauf des Verfahrens zu gewährleisten. Er hat die Verhandlung des jeweiligen Rechtsstreits durch Aufruf der Sache zu eröffnen und den Gang der mündlichen Verhandlung zu bestimmen. Der Vorsitzende erteilt den Parteien und Prozessbevollmächtigten das Wort und kann es im Falle der Missachtung seiner Anweisungen auch wieder entziehen (Abs 2 S 1). Zusammen mit dem Urkundsbeamten trägt er die Verantwortung für eine ordnungsgemäße Protokollierung (§ 163 I). Er hat die Ordnung in der Sitzung aufrecht zu erhalten (§ 176 ff GVG, Sitzungspolizei). Anordnungen gegen Verfahrensbeteiligte beschließt das Gericht. Der Vorsitzende schließt die Verhandlung und verkündet die Entscheidungen des Gerichts (Abs 4).
2. Worterteilung und -entzug.
Rn 3
Der Vorsitzende hat auf eine disziplinierte und sachliche Erörterung des Sach- und Streitstandes hinzuwirken. Auf Verlangen hat der Vorsitzende auch den Mitgliedern des Gerichts die Ausübung des Fragerechts zu gestatten, ohne dass ihm eine diesbezügliche Zweckmäßigkeitskontrolle zusteht. Im Hinblick auf das Recht zur Worterteilung und -entziehung aus Abs 2 kommt ihm ein Ermessensspielraum zu, ohne dass darin eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu sehen ist (BGHZ 109, 41). Dieser umfasst nicht das Recht zur Äußerung zu jedem beliebigen Zeitpunkt, sondern erstreckt sich auf die Gewährung des Wortes anlässlich der gesamten mündlichen Verhandlung (Musielak/Voit/Stadler § 136 Rz 4 mwN). Etwas anderes gilt dann, wenn es sich um den vollständigen Entzug des Wortes bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung handelt. Der Wortentzug ist nicht an ungebührliches Verhalten iSd § 178 Abs 1 GVG gebunden, sondern kann bereits im Falle unsachlichen oder weitschweifenden Vortrags erfolgen (OVG Münster NJW 90, 1749 [OVG Nordrhein-Westfalen 23.02.1990 - 18 B 23082/89]).
3. Außerhalb der Verhandlung.
Rn 4
Außerhalb der mündlichen Verhandlung zählt zur formellen Prozessleitung insb die Bestimmung der Beweisaufnahme durch den beauftragten Richter (§ 361), die Anberaumung (§§ 216, 361), Aufhebung und Verlegung eines Termins (§ 227), die Entscheidung über die Fristen (§§ 134 II 2, 226, 239 III 2, 274 III 2, 520 II 2, 521 II 1, 551 II 5, 6) sowie die Wahl zwischen frühem ersten Termin und schriftlichem Vorverfahren (§ 272 II). Die Geschäftsverteilung innerhalb des Spruchkörpers erfolgt durch den vom Gericht für jedes Jahr zu beschließenden Geschäftsverteilungsplan (§ 21g I, II GVG).
II. Materielle Prozessleitung.
1. Überblick.
Rn 5
Dem Vorsitzenden obliegt auch die materielle Prozessleitung, mithin die Verantwortung für eine sachangemessene, sorgfältige Verhandlung des Falles (Abs 3 iVm § 139). Danach hat er für die erschöpfende Erörterung aller erheblicher Fragen zu sorgen (BAG NZA 93, 1036 [BAG 25.02.1993 - 8 AZR 274/92]), ebenso wie für die Durchführung einer Beweisaufnahme (BGH NJW 84, 1823 [BGH 17.04.1984 - VI ZR 220/82]). Der Vorsitzende, wie jedes Mitglied des Gerichts, hat der richterlichen Frage- und Aufklärungspflicht aus § 139 zu genügen. Die Aufnahme der Regelung des früheren § 139 III aF in Abs 2 S 2 bringt keine sachliche Änderung, sondern ist aus Gründen der Systematik erfolgt. Gleichwohl ist auch dadurch eine klare Trennung zwischen formeller und materieller Prozessleitung nicht vollständig geglückt (Musielak/Voit/Stadler § 136 Rz 2).
2. Außerhalb der Verhandlung.
Rn 6
Zur materiellen Prozessleitung außerhalb der mündlichen Verhandlung rechnen die vorbereitenden Anordnungen nach § 273, das Prüfungsverfahren zur Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach § 118 sowie die Sachentscheidung in Dringlichkeitsfällen wie bspw nach § 944.