I. Normzweck.
Rn 1
§ 139 verpflichtet das Gericht, durch Fragen und Hinweise an die Parteien auf eine sachgerechte Prozessführung durch diese hinzuwirken. Die materielle Prozessleitung durch das Gericht (zur Abgrenzung von der formellen Prozessleitung s § 136 Rn 1 f) soll ein faires und effizientes Verfahren sicherstellen, das möglichst optimale Rahmenbedingungen zur gerechten und angemessenen Lösung des Konflikts bietet (grdl Rensen; zuletzt Stürner ZZP 123, 147 mwN; Nober/Ghassemi-Tabar NJW 17, 3265). Der durch das Gesetz zur Aktivität verpflichtete Richter darf sich daher nicht damit begnügen, passiv das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen, er muss sich vielmehr mit den Parteien in den Grenzen von § 139 über den Streitstoff in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auseinandersetzen, nicht zuletzt um die Akzeptanz der Entscheidung zu fördern (BTDrs 14/3722, 60). Das zwingt den Richter nicht automatisch zu einem Rechtsgespräch mit den Parteien (s.u. Rn 5). Die Einforderung eines Rechtsgesprächs ist Anwaltssache (Hirtz AnwBl 12, 21 [BFH 10.08.2011 - IX B 175/10]). Die umfassende Wahrnehmung der richterlichen Pflichten im Rahmen von § 139 rechtfertigt keine Ablehnung wegen Befangenheit (BVerwG AnwBl 18, 46 [BVerwG 10.10.2017 - BVerwG 9 A 16.16]; München MDR 19, 889). Zu dem mWv 1.1.20 neu eingefügten Abs 1 S 3 s.u. Rn 8 aE.
II. Systematischer Zusammenhang.
1. Materielle Verfahrensleitung und Dispositionsmaxime.
Rn 2
Im Ausgangspunkt obliegt es aufgrund der Dispositionsmaxime und des Beibringungsgrundsatzes den Parteien, den Prozess zu führen (grundlegend Tolani, Parteiherrschaft und Richtermacht 19). Sie müssen die Anträge formulieren, die relevanten Tatsachen vortragen, einschlägige Beweismittel benennen und ggf Einreden erheben. Das Gericht soll durch die materielle Prozessleitung die Parteien bei der Erfüllung dieser Prozessführungslast lediglich unterstützen und ihnen die effektive Nutzung ihrer Rechte ermöglichen. Die materielle Prozessleitung durch das Gericht steht daher nicht in einem Gegensatz zur Dispositionsmaxime und zum Beibringungsgrundsatz, sondern in einem dienenden Verhältnis (St/J/Kern Rz 2). Sie ist keine Durchbrechung des Beibringungsgrundsatzes (Einl Rn 28). § 139 führt auch nicht zu einer ›Kooperationsmaxime‹ (Prütting NJW 80, 361, 362, 364). Das Verhältnis zwischen Richtermacht und Parteifreiheit wurde auch durch die Neufassung der Norm iRd ZPO-RG nicht grds neu definiert (Prütting FS Musielak, 397, 410; Katzenmeier JZ 02, 533, 537). Gerade weil § 139 die Fairness des Verfahrens fördern soll, darf sich der Richter in Ausübung seiner Pflichten aus § 139 keinesfalls auf die Seite der ›schwächeren‹ Partei stellen. Insbesondere erlaubt es die Vorschrift auch in ihrer veränderten Fassung dem Gericht nicht, auf neue Anspruchsmöglichkeiten des Klägers oder noch nicht geltend gemachte Gestaltungsrechte und Einreden des Beklagten hinzuweisen. Das Gericht darf nur Hilfestellung geben, aber nicht selbst im Interesse einer Partei die Initiative ergreifen. Es bleibt auch insoweit strikt zur Neutralität verpflichtet (BGH NJW 04, 164 [BGH 02.10.2003 - V ZB 22/03]), will es sich nicht der Gefahr einer Ablehnung wegen Befangenheit nach § 42 aussetzen. Die Grenze zwischen gebotenem Hinweis und unzulässiger Parteinahme ist nur im Einzelfall zu ziehen (BVerfG MDR 20, 1524 [BVerfG 17.09.2020 - 2 BvR 1605/16]).
2. Materielle Verfahrensleitung und das Recht auf rechtliches Gehör (Art 103 I GG).
Rn 3
Aus § 139 folgt für das Gericht eine Pflicht zur Kommunikation mit den Parteien, um Unklarheiten auszuräumen und auf sachgerechte Anträge hinzuwirken. Art 103 I GG gewährt dagegen dem Einzelnen lediglich ein Recht darauf, dass das Gericht sein Anliegen zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht. Eine Pflicht zum Rechtsgespräch oder eine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts ist dagegen verfassungsrechtlich nicht verbürgt (BVerfG NJW 17, 3218; NJW-RR 02, 69 [BVerfG 03.07.2001 - 1 BvR 1043/00]). § 139 geht insofern über Art 103 GG hinaus (BVerfGE 84, 188, 190 [BVerfG 29.05.1991 - 1 BvR 1383/90]; NJW-RR 05, 936, 937; NJW 17, 3218; BGH MDR 20, 2730), kann aber verletzt sein, wenn das Gericht seiner Entscheidung Sachvortrag zugrunde legt, ohne dass die Gegenseite die Möglichkeit zur Stellungnahme hatte (BVerfG NJW 21, 50; MDR 20, 1524 [BVerfG 17.09.2020 - 2 BvR 1605/16]; NJW 17, 3218 [BVerfG 01.08.2017 - 2 BvR 3068/14]; NJW 16, 1166 [BGH 16.12.2015 - XII ZB 450/13]). Soweit es allerdings um das in § 139 II 2 geregelt Verbot der Überraschungsentscheidung geht, wird eine Verletzung oft zugleich auch ein Grundrechtsverstoß sein, der mangels anderer Rechtsbehelfe gegen die Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann.
III. Allgemeine Voraussetzungen der Erörterungspflicht.
1. Anwendungsbereich.
Rn 4
§ 139 gilt in allen Instanzen (bei Verfahren vor dem Amtsgericht ist zusätzlich § 504 zu beachten) und Verfahrensarten (für die ZVS BGH NJW 08, 1742 [BGH 13.03.2008 - I ZB 59/07]; für das ZVG BGH MDR 14, 50 [BGH 10.10.2013 - V ZB 181/12]; für den einstweiligen Rechtsschutz BVerfG NJW 18, 3631, 3634 [BVerfG 30.09.2018 - 1 BvR 1783/17]). Ob die Parteien anwaltlich vertreten sind, ist für die Anwendbarkeit der Vorschrift unerheblich (...