Rn 14
Die Hinweispflicht aus Abs 2 betrifft solche tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte, die das Gericht hinsichtlich seiner Entscheidung in der Hauptsache für wesentlich erachtet. Auf einen solchen Punkt darf das Gericht seine Entscheidung nur dann stützen, wenn sichergestellt ist, dass die Parteien erkennen konnten, dass das Gericht den Punkt für relevant hält und wie es in der Sache dazu steht. Ein Überraschungsurteil liegt insb vor, wenn die das angefochtene Urt tragende Erwägung im gerichtlichen Verfahren niemals erkennbar thematisiert worden war (Karlsr VersR 08, 1548). Abs 2 bezieht sich nur auf gerichtliche Entscheidungen. Auf einen von den Parteien geschlossenen Prozessvergleich kann die Norm nicht analog angewendet werden (aA Schramm, Richterliche Pflichten und Haftung beim Prozessvergleich, 15).
1. Für Entscheidung der Hauptsache erheblicher Gesichtspunkt.
Rn 15
Bei Gesichtspunkten iSv Abs 2 kann es sich um die materiell- oder verfahrensrechtliche Beurteilung des Streits, um die Behandlung von Tatsachen oder um die Würdigung von Beweisen handeln. Die Hinweispflicht besteht daher bspw hinsichtlich mangelnder Substantiierung des Vortrags (BGH NJW-RR 99, 605 [BGH 13.01.1999 - IV ZR 7/98]) – erst recht wenn die Partei aufgrund einer Beweisaufnahme davon ausgehen durfte, dass das Gericht in dieser Hinsicht keine Bedenken hat (Saarbr MDR 03, 1372 [OLG Saarbrücken 18.06.2003 - 1 U 167/03]) –, hinsichtlich der Schlüssigkeit der Klage (BGH NJW-RR 04, 281, 282 [BGH 05.11.2003 - VIII ZR 380/02]), hinsichtlich der rechtlichen Würdigung des Gerichts – va wenn sich diese im Laufe des Verfahrens verändert (BVerfG NJW 96, 3202 [BVerfG 15.08.1996 - 2 BvR 2600/95]) hat oder von der Auffassung der Vorinstanz abweicht (BGH NJW-RR 07, 17 [BGH 28.09.2006 - VII ZR 103/05]; ZfBR 09, 241) oder andere als die von den Parteien zitierten Anspruchsgrundlagen heranziehen will (BGH BauR 08, 1662) –, hinsichtlich der Zurückweisung von Vorbringen als verspätet (St/J/Kern Rz 68), hinsichtlich einer bestimmten Art der Schadensberechnung (Nürnbg MDR 85, 240), hinsichtlich der Auslegung eines Vertrages, die von den Parteien nicht in Erwägung gezogen wurde (BGH NJW 93, 667), hinsichtlich der von den Parteien übersehenen Anwendbarkeit ausländischen Rechts (BGH NJW 76, 474 [BGH 19.12.1975 - I ZR 99/74]).
Voraussetzung für eine Hinweispflicht ist, dass der Punkt für die Entscheidung der Hauptsache aus Sicht des Gerichts relevant ist. Die rechtliche Beurteilung des Prozessgerichts ist auch für das Berufungsgericht maßgeblich, wenn es überprüft, ob das Prozessgericht einen Hinweis nach Abs 2 hätte erteilen müssen. An der Entscheidungserheblichkeit fehlt es bei Gesichtspunkten, die Hilfsbegründungen des Urteils betreffen. Das Verbot der Überraschungsentscheidungen besteht dem Wortlaut nach nicht für Nebenforderungen iSv § 4 I, also für die Entscheidung über Früchte, Nutzungen, Zinsen, Kosten. Diese Ausnahme ist aber einzuschränken für die Fälle, in denen die Nebenforderung einen nicht nur nebensächlichen Betrag darstellt, wenn also etwa die Zinsen die Hauptforderung übersteigen. Umgekehrt ist die Ausnahme im Wege der Analogie auf solche Gesichtspunkte zu erstrecken, die nur geringfügige Teile der Hauptforderung betreffen, die von den Parteien nicht weiter problematisiert wurden (str, wie hier die hM vgl St/J/Kern Rz 85 mwN; aA Musielak/Voit/Stadler Rz 20).
2. Überraschender Charakter der Entscheidung.
Rn 16
Für das Bestehen einer gerichtlichen Hinweispflicht kommt es als wesentliches Moment entscheidend auf den Überraschungseffekt bei den Parteien an. Eine solche Überraschung kann sich daraus ergeben, dass das Gericht von der übereinstimmenden Beurteilung der Parteien hinsichtlich eines Gesichtspunkts abweicht (S 2) oder daraus, dass das Gericht einen Gesichtspunkt für maßgeblich hält, den eine Partei übersehen oder für unerheblich gehalten hat (S 1). Das Gericht hat diese Frage unter Zugrundelegung des bisherigen Inhalts des Prozesses zu entscheiden (St/J/Leipold Rz 76). Überraschend ist es für die in der Vorinstanz siegreiche Partei, wenn das Rechtsmittelgericht von der Rechtsansicht der Vorinstanz ohne Ankündigung abweicht (BGH ZfBR 09, 241) oder das Gericht von seinem eigenen rechtlichen Hinweis im Urteil abweicht (BGH NJW 02, 3317, 3320; 14, 2796; ZIP 20, 583). Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet es aber nicht, dass das Rechtsmittelgericht auf seine vom erstinstanzlichen Gericht abweichende Auffassung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage hinweist, wenn die angefochtene Entscheidung in diesem Punkt vom Rechtsmittelführer mit vertretbaren Ausführungen angegriffen wird (BVerwG DÖV 08, 1005 [BVerwG 24.07.2008 - BVerwG 6 PB 18.08]). An dem Überraschungsmoment fehlt es auch, wenn die Partei in ihrem schriftsätzlichen oder mündlichen Vorbringen auf den Punkt eingegangen ist. Wenn eine Partei näheren Vortrag zu einem Punkt angekündigt hat, der dann unterblieben ist, ist ersichtlich, dass die Partei den Punkt nicht für unerheblich hält. Ein Hinweis nach Abs 2 ist daher nicht erforderlich (BGH MDR 91, 240, 241), allerdings kann ei...