1. Anwendungsbereich.
Rn 4
§ 139 gilt in allen Instanzen (bei Verfahren vor dem Amtsgericht ist zusätzlich § 504 zu beachten) und Verfahrensarten (für die ZVS BGH NJW 08, 1742 [BGH 13.03.2008 - I ZB 59/07]; für das ZVG BGH MDR 14, 50 [BGH 10.10.2013 - V ZB 181/12]; für den einstweiligen Rechtsschutz BVerfG NJW 18, 3631, 3634 [BVerfG 30.09.2018 - 1 BvR 1783/17]). Ob die Parteien anwaltlich vertreten sind, ist für die Anwendbarkeit der Vorschrift unerheblich (BGH BeckRS 16, 04424 Rz 8; BGH NJW 03, 3626 [BGH 05.06.2003 - I ZR 234/00]; Brandenbg NJW-RR 14, 574). Im Anwaltsprozess genügt aber der Hinweis auf die einschlägige Norm ohne Wiedergabe des Gesetzestextes (Hamm NJW-RR 14, 446 [OLG Hamm 06.12.2013 - 9 W 60/13]).
Entsprechend seiner systematischen Stellung betrifft § 139 va die Pflichten des Gerichts in Bezug auf die Vorbereitung und Durchführung der mündlichen Verhandlung. Weil Hinweise nach § 139 gem Abs 4 ›so früh wie möglich‹ zu erteilen sind, ist die Vorschrift auch in einem frühen ersten Termin nach § 275 anzuwenden, mit dem der Haupttermin vorbereitet werden soll. Auch nach der Beweisaufnahme besteht die Hinweispflicht des § 139, sie bezieht sich dann – wie § 279 III verdeutlicht – auch auf die Ergebnisse der Beweisaufnahme.
Für die Güteverhandlung sieht § 278 II 2 vor, dass das Gericht ›den Sach- und Streitstand unter freier Würdigung aller Umstände‹ mit den Parteien erörtert. Der Unterschied zu § 139 liegt va darin, dass durch eine Erörterung nach § 278 va eine einvernehmliche Lösung herbeigeführt werden soll. Eine vergleichbare Zielorientierung kennt § 139 trotz § 278 I nicht. Unzulässig sind daher richterliche Hinweise an eine Partei, um damit der Gegenseite einen gerichtlichen Vergleichsvorschlag nahezubringen.
§ 139 gilt auch für schriftliche Verfahren (§§ 128 II, 495a) oder Verfahrensabschnitte (§ 276); vgl Nober/Ghassemi-Tabar NJW 17, 3265. Aus der Schriftlichkeit des Verfahrens erfolgt nicht notwendigerweise, dass auch die Hinweise schriftlich zu erteilen sind. Mündliche Erteilung ist zulässig, allerdings muss auch die mündliche Hinweiserteilung aktenkundig gemacht werden (Abs 4).
2. Gegenstand.
Rn 5
Aus § 139 ergibt sich eine Pflicht des Gerichts, die wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Punkte des Streits (Sachverhältnis) mit den Parteien umfassend zu erörtern. Welche Punkte für den Streit wesentlich sind, bemisst sich nicht nach der Einschätzung der Parteien, sondern bestimmt das Gericht iRd vom Kl bestimmten Streitgegenstands und der vom Beklagten vorgebrachten Einreden. Die Erörterungspflicht betrifft auch das Verfahren selbst in seiner jeweiligen konkreten Lage (Streitverhältnis). Zu erörtern können danach sein etwa die tatsächlichen Behauptungen der Parteien, angebotene Beweismittel, das Ergebnis der Beweisaufnahme, Sach- und Verfahrensanträge der Parteien oder die rechtlich problematischen Punkte des Streits. Das Gericht ist somit zu einem ›offenen Rechtsgespräch‹ mit den Parteien verpflichtet (St/J/Kern Rz 19), in dessen Verlauf das Gericht auch berechtigt (aber nicht verpflichtet) ist, seine eigene vorläufige Beurteilung der Rechtslage den Parteien mitzuteilen (München MDR 04, 52). Eine Pflicht besteht insoweit nur in den Grenzen des Verbots der Überraschungsentscheidung (Abs 2), darüber hinaus ist es Sache der Parteien und ihrer Anwälte, ein Rechtsgespräch einzufordern (s.o. Rn 1); iE BGH MDR 18, 1209 [BGH 27.03.2018 - X ZB 11/17]; Beck MDR 18, 1474.
3. Anlass zur Erörterung.
Rn 6
Für Fragen zur Klärung des Sach- und Streitstands und für Hinweise in Bezug auf eine Ergänzung oder Änderung des Parteivorbringens muss ein konkreter Anlass bestehen (München NJW-RR 12, 309 [BGH 27.10.2011 - III ZB 31/11]). Die Erörterungspflicht des Gerichts entsteht bei Unklarheiten, Widersprüchen, Lücken, fehlender Schlüssigkeit oder nicht ausreichender Substanziierung im Vortrag einer oder auch beider Parteien bzgl vom Gericht für wesentlich erachteter Punkte. Maßgeblich für eine etwaige Verletzung der Aufklärungspflicht ist der materiell-rechtliche Standpunkt des Gerichts ohne Rücksicht auf seine Richtigkeit (BGH NJW 09, 355 [BGH 14.10.2008 - VI ZR 36/08]). Richterliche Aufklärung ist auch erforderlich, wenn eine Partei ihr prozessuales Vorbringen mglw nicht aufrechterhalten will (BGH NJW 18, 1171 [BGH 14.11.2017 - VIII ZR 101/17]). Auf Fehler beim Angebot der Parteivernehmung einer Partei muss das Gericht ebenfalls hinweisen (KG NJW 18, 239 [KG Berlin 11.07.2017 - 21 U 100/16]). Grds sind Hinweise des Gerichts so früh wie möglich und möglichst vor der ersten mündlichen Verhandlung zu geben.
Eine Hinweispflicht nach Abs 1 besteht nicht hinsichtlich solcher Anforderungen an den Sachvortrag, mit denen ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf rechnen musste (BGH NJW-RR 98, 16 [BGH 26.09.1997 - V ZR 65/96]; vgl auch BVerfG NJW 94, 1274 [BVerfG 17.01.1994 - 1 BvR 245/93]). Die Hinweispflicht des Gerichts entlastet also nicht die Partei und ihren Prozessbevollmächtigten, alle Tatsachenbehauptungen und alle Rechtsausführu...