Rn 3
Die Belehrungspflicht betrifft vorrangig Verfahren ohne Anwaltszwang, also insbesondere das Verfahren vor den Amtsgerichten. In Verfahren mit Anwaltszwang beschränkt sich die Belehrungspflicht auf Entscheidungen, bei denen nicht sichergestellt ist, dass die Partei, der gegenüber eine Entscheidung ergeht, anwaltlich vertreten ist, also insbesondere bei Versäumnisurteil (Belehrung über den Einspruch), bei Beschlüssen im einstweiligen Verfügungsverfahren (Belehrung über den Widerspruch) und bei Entscheidungen, die gegenüber Zeugen oder Sachverständigen ergehen (also etwa Ordnungsmittel). Ebenso ist eine Entscheidung mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen, mit der die Berufung als unzulässig verworfen wird, weil sie durch eine anwaltlich nicht vertretene Partei eingelegt wurde (BGH MDR 16, 544 f [BGH 28.01.2016 - V ZB 131/15]). Eine Belehrungspflicht über die Möglichkeit einer Anschlussberufung besteht nicht, da sie kein Rechtsmittel ist, sondern nur eine Antragstellung innerhalb eines vom Gegner eingelegten Rechtsmittels (BGH JR 18, 570 [BGH 16.05.2017 - X ZR 120/15]; vgl auch Bauer-Gerland JR 18, 545).
Rn 4
Die Belehrungspflicht erstreckt sich auf sämtliche anfechtbare Entscheidungen, auch auf selbstständig anfechtbare Zwischen- und Nebenentscheidungen (z.B. Zwischenurteil über den Grund nach §§ 303, 304; Entscheidungen über Ablehnungsgesuche (§ 46 II) oder die Aussetzung des Verfahrens (§ 252), nicht aber auf außerordentliche Rechtsbehelfe (vgl BTDrs 17/10490 S 12 f). Über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 233), die Anhörungsrüge (§ 321a), die Urteilsberichtigung und -ergänzung (§§ 319–321) braucht ebenso wenig belehrt zu werden wie über die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde.
Rn 5
Bei bloßen Vollstreckungsmaßnahmen (Zwangsmaßnahmen ohne vorherige Anhörung, etwa die Tätigkeit der Gerichtsvollzieher) soll nach der Gesetzesbegründung keine Belehrungspflicht bestehen, anders aber – mit Rücksicht auf die Grundrechtsrelevanz des Eingriffs – bei der Entscheidung des Richters über den Antrag auf Erlass eines Haftbefehls nach § 901. Die Härtefallregelung des § 775a wurde wegen ihres Ausnahmecharakters ebenfalls nicht in die Belehrungspflicht einbezogen (zum Ganzen BTDrs 17/10490 S 14).
Rn 6
Besondere Sorgfalt ist der Rechtsbehelfsbelehrung zu widmen, wenn das Rechtsmittel ohne anwaltliche Vertretung eingelegt werden kann. Denn in diesem Fall muss die Belehrung so abgefasst sein, dass sie einen nicht anwaltlich vertretenen Beteiligten in die Lage versetzt, allein anhand der Rechtsbehelfsbelehrung ohne Mandatierung eines Rechtsanwalts eine formrichtige Beschwerde einzulegen (BTDrs 17/10490 S 13). Bei Urteilen und schriftlich ergehenden Beschlüssen ist die Belehrung in die Entscheidung selbst aufzunehmen (vor den Unterschriften der Richter). Ist eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht erforderlich und wird gleichwohl eine solche erteilt, muss diese einen Hinweis auf den Anwaltszwang enthalten, weil ansonsten auch in Anwaltsprozessen die Gefahr besteht, dass die Partei selbst die Belehrung missversteht und annimmt, selbst zur Beschwerdeeinlegung berechtigt zu sein (OLG Dresden MDR 19, 638).
Rn 7
Infolge einer unrichtigen oder fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung kann sich – im Falle der Ursächlichkeit – ein Wiedereinsetzungsgrund bei Versäumung des Rechtsmittels ergeben (dazu iE § 233 Rn 58). Die Vermutung fehlenden Verschuldens bei einer unterbliebenen oder fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung entfällt im Falle der Vertretung durch einen RA nur dann, wenn sich das anwaltliche Mandat auf die Angelegenheit bezieht (BGH FGPrax 23, 142 [BGH 01.03.2023 - XII ZB 18/22] Rz 27 ff).