I. Allgemeines.
Rn 26
§ 85 II stellt das Verschulden des Prozessbevollmächtigten ausdrücklich dem Verschulden der Partei gleich. Eigenes Verschulden des Rechtsanwaltes muss sich die Partei deshalb zurechnen lassen, ebenso wenn der Sozius für den Rechtsanwalt handelt. Das gleiche gilt für das Handeln eines juristisch voll ausgebildeten Vertreters (Assessor als freier Mitarbeiter), dem der Anwalt die selbstständige Bearbeitung der Rechtsangelegenheit überlassen hat (BGH NJW 04, 2901), das eines nach § 53 BRAO bestellten Vertreters (BGH VersR 93, 124, 125) oder eines Abwicklers gem § 55 BRAO (BGH NJW 92, 2158). Die Partei muss sich jedoch ein Verschulden des (sonst zuverlässigen) Hilfspersonals des Anwaltes nicht zurechnen lassen. Zum Hilfspersonal kann auch ein angestellter Anwalt zählen, wenn ihm noch nicht die selbstständige Bearbeitung von Rechtssachen anvertraut ist, die Grenze zwischen Hilfstätigkeit und eigenverantwortlicher Bearbeitung ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu ziehen (BGH NJW-RR 92, 1019). Ein Rechtsanwalt, der einem anderen einen Rechtsmittelauftrag erteilt, muss dem beauftragten Rechtsanwalt eigenverantwortlich in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise die für die fristgemäße Einlegung und Begründung des Rechtsmittels erforderlichen Daten übermitteln. Die Übermittlung der Daten hat regelmäßig schriftlich zu erfolgen. Erfolgt die Übermittlung ausnahmsweise fernmündlich, so besteht eine besondere Kontrollpflicht, um Missverständnisse zuverlässig auszuschließen (BGH MDR 19, 884 [BGH 09.05.2019 - IX ZB 6/18] Rz 13).
Der Rechtsanwalt ist gehalten, seine Büroorganisation sachgerecht zu gestalten und dadurch die Einhaltung von Fristen sicher zu stellen. Organisationsfehler sind eigene Fehler des Rechtsanwalts und schaden der Partei. Verschuldensmaßstab ist allerdings nicht die äußerste oder größtmögliche Sorgfalt, sondern die von einem Rechtsanwalt zu fordernde übliche Sorgfalt (BGH NJW 14, 700 [BGH 12.11.2013 - VI ZB 4/13]). Dabei ist ein objektiv-typisierender Maßstab anzulegen (BGH MDR 18, 484).
Rn 27
Delegation. Der Anwalt darf bestimmte Aufgaben delegieren (vgl. unten Rn 32 ff), um sich auf die eigentliche Tätigkeit als Organ der Rechtspflege konzentrieren zu können. Übernimmt er einfache Aufgaben selbst (faxen, frankieren, Adressen heraussuchen, E-Mail schreiben) und unterläuft ihm dabei – auch unter Druck – ein Versehen, kommt allerdings Wiedereinsetzung nicht in Betracht (vgl BGH FamRZ 03, 667: falsche Eingabe der Faxnummer durch Anwalt). Auch bei nicht delegierbaren Aufgaben schadet dem Anwalt jedes Versehen (BGH NJW-RR 04, 1148 [BGH 07.04.2004 - XII ZR 253/03]: falsche Bezeichnung des Rechtsmittelführers). Ein Versehen einer geschulten Kraft bei einer Verwechselung eines vorgefertigten Adressaufklebers begründet kein Anwaltsverschulden (BGH MDR 12, 363).
II. Früherer Rechtsanwalt.
Rn 28
Ein schuldhaftes Verhalten ihres früheren Rechtsanwalts, also etwa ein nach Mandatsniederlegung erfolgtes schuldhaftes Verhalten muss sich die Partei hingegen nicht zurechnen lassen (BGH NJW 08, 2713 [BGH 11.06.2008 - XII ZB 184/07]). Bsp: Nach Mandatsniederlegung nimmt der Anwalt noch eine Zustellung nach § 87 II wirksam entgegen und informiert die Partei davon nicht oder gibt ein falsches Zustelldatum an, so dass die Partei die Rechtsmittelfrist versäumt (BGH NJW 08, 234). Auch das Handeln des Prozessbevollmächtigten nach Widerruf der Zulassung und Löschung aus der Anwaltsliste ist der Partei grds nicht zurechenbar (BGH MDR 08, 873). Die Niederlegung eines Mandats, zB wegen Arbeitsüberlastung, ist kein Anwaltsverschulden, wenn noch genügend Zeit zur Beauftragung eines anderen Anwalts bleibt (BGH VersR 87, 286); anders hingegen, wenn der Anwalt das Mandat zur Unzeit niederlegt (BGH NJW 06, 2334: Niederlegung am letzten Tag der Wiedereinsetzungsfrist); in diesem Fall ist das schuldhafte Verhalten auch während des bestehenden Mandats erfolgt und somit der Partei zurechenbar. Im Übrigen hat die Partei im Falle einer durch Mandatsniederlegung verursachten Fristversäumung darzulegen, dass die Beendigung des Mandats nicht auf ein Verschulden ihrerseits zurückzuführen ist (BGH NJW-RR 14, 378 [BGH 18.12.2013 - III ZR 122/13]).
Rn 29
Ein mitursächliches Verschulden des vorinstanzlich tätig gewordenen Rechtsanwalts schließt die Wiedereinsetzung aus, wenn er nicht hinreichend über den Ablauf der Rechtsmittelfrist belehrt hat. Das Mandat eines Prozessbevollmächtigten ist grds nicht beendet, bevor er seinem Auftraggeber das Urteil übersandt, dessen Zustellung mitgeteilt und auf die Rechtsmittelmöglichkeiten hingewiesen hat. Ein Prozessbevollmächtigter muss seine Partei darüber unterrichten, ob, in welchem Zeitraum, in welcher Weise und bei welchem Gericht gegen eine Entscheidung Rechtsmittel eingelegt werden kann. Wegen der Bedeutung dieser Angelegenheit darf der Rechtsanwalt diese Aufgabe nur einem gut ausgebildeten und zuverlässigen Büropersonal, das er mit genauen, unmissverständlichen Anweisungen versehen hat, übertragen (BGH MDR ...