Rn 18
Zentraler Prüfungspunkt bei der Wiedereinsetzung ist die Frage, ob die Partei die Fristversäumung zu vertreten hat, also nicht die erforderliche Sorgfalt angewendet hat. Maßstab ist die ›Sorgfalt einer ordentlichen Prozesspartei‹ mithin ein objektiver Fahrlässigkeitsmaßstab (Zö/Greger Rz 12), nach der Gegenansicht (St/J/Roth Rz 25) soll es unter dem Blickwinkel der Einzelfallgerechtigkeit und mit Blick auf den Justizgewährungsanspruch auf die individuellen Fähigkeiten der Partei ankommen, so dass zB bei einem Ausländer ein anderer Maßstab anzulegen wäre als bei einer deutschen Prozesspartei. Im Ergebnis dürfte der Unterschied so groß nicht sein, denn dass in die Betrachtung individuelle Umstände (etwa Krankheit) einzubeziehen sind, ist der Wiedereinsetzung immanent, andererseits reicht für Schuldlosigkeit mangelnde Erfahrung im Rechts- und Geschäftsleben, Unkenntnis von Rechtsmittelfristen usw nicht aus, weil vorausgesetzt wird, dass sich eine (geschäftsfähige) Prozesspartei diese Kenntnis mit Hilfe Dritter (Rechtsanwalt) verschafft, allerdings wird bei der Beurteilung der hierfür erforderliche Zeitaufwand ggf zu berücksichtigen sein. Nach einer vermittelnden Ansicht soll bei einem RA ein objektiver Maßstab angelegt werden, während es bei anderen Personen auf die jeweiligen subjektiven Fähigkeiten ankommen soll (Tho/Putzo/Hüßtege Rz 13). Kein Wiedereinsetzungsgrund ist das nachträgliche Auffinden einer der Partei günstigen Entscheidung (vgl BGH NJW 09, 2310 [BGH 02.04.2009 - IX ZA 6/09]).
Die Prüfung der angegebenen Wiedereinsetzungsgründe erfolgt von Amts wegen. Sie unterliegen daher nicht der Parteidisposition und können nicht unstreitig gestellt werden (BGH WM 16, 2170).
1. Typische Beispiele für eine schuldlose Fristversäumung.
Rn 19
Dies ist stets der Fall, wenn eine Geisteserkrankung vorliegt, die zum Eintritt der Geschäftsunfähigkeit einer Partei führt (BGH NJW 87, 440: für die Dauer der Geschäftsunfähigkeit bzw bis zur Bestellung eines gesetzlichen Vertreters). Bei einer schwerwiegenden Erkrankung kommt es darauf an, ob die mit ihr verbundenen Einschränkungen die Partei daran hindern, einen Rechtsanwalt zu beauftragen oder diesen sachgemäß zu unterrichten (BGH NJW-RR 94, 957; VersR 89, 931). Bei einer länger andauernden Erkrankung sind für den Fall einer absehbaren Verschlechterung des Gesundheitszustandes Vorkehrungen zu treffen (vgl MüKo/Stackmann Rz 55). Zu beachten ist bei einer Erkrankung die Frage der Kausalität: Fällt das Hindernis in Form der Erkrankung weg, so dass die Fristwahrung noch möglich gewesen wäre, liegt auch dann kein Wiedereinsetzungsgrund vor, wenn die Überlegungszeit für die Partei kürzer ist. Die Wiedereinsetzung dient nicht dazu, der Partei in jedem Fall die volle Frist zu Verfügung zu stellen. Bei einer Infektion mit dem Corona-Virus ist für die Frage der schuldlosen Fristversäumung auf den konkreten Einzelfall abzustellen (auf der Heiden NJW 20, 1023, 1027; Gehrlein FuR 20, 264, 266). Bei einem milden Verlauf der Erkrankung und einer nur häuslichen Quarantäne – etwa auch wegen eines bloßen Corona-Verdachts –, ist zu prüfen, ob die Partei ihre Belange wahrnehmen konnte. Telefonische Kontaktaufnahmen und die Übermittlung von Schriftstücken an ihren Anwalt per E-Mail können hier durchaus ausreichend sein. Ebenso, wenn sie eine andere Person mit der sachgerechten Wahrnehmung ihrer Belange beauftragen hätte können. In Betracht zu ziehen ist, dass durch eine (auch nur vermeintliche) Infektion bei einer entspr veranlagten Person psychisch ein Ausnahmezustand eintreten kann, der eine sachgerechte Interessenwahrnehmung unmöglich macht. Auch dies stellt einen Wiedereinsetzungsgrund dar (vgl dazu BGH NJW-RR 94, 957; JurBüro 07, 615). Eine solche psychische Ausnahmesituation kann allerdings nicht einfach zugrunde gelegt, sondern muss durch ein ärztliches Attest glaubhaft macht gemacht werden (Rauscher CoVuR 20, 2, 9). Ob die Betroffenheit durch die unerwartete Nachricht von dem Tod eines Freundes oder eines Angehörigen zur Schuldlosigkeit der Fristversäumung führt, ist vom Einzelfall abhängig (vgl BGH NJW-RR 16, 1022). Eine akute Erkrankung eines nahen Angehörigen, insb kurz vor Fristablauf kann eine Schuldlosigkeit begründen (BayOLG NJW-RR 01, 1648: vorzeitige Wehen der Ehefrau; VersR 85, 47: Nierenkolik des Schwagers).
Rn 19a
Die Abwesenheit einer Partei ist schuldlos, wenn sie nicht mit einer Zustellung rechnen musste; bei einem laufenden Verfahren deshalb nur dann, wenn sie ausreichende Vorkehrungen getroffen hat, dass sie rechtzeitig und zuverlässig Kenntnis erhält (ausreichend: Beauftragung 16-jähriger Tochter BGH NJW-RR 02, 137 [BGH 06.06.2001 - VIII ZB 8/01]). Bei unvorhergesehenen Ereignissen (unerwartete Dienstreise) kommt es auf den Einzelfall an. War die Partei an der Rückkehr von einer Reise in unvorhersehbarer Weise zwangsweise – zu denken ist hier an Reisebeschränkungen infolge der Corona-Pandemie – gehindert, wird die Abwesenheit unverschuldet sein, wenn sie bei plangemäßer Rückkehr rechtzeitig auf die absehbare Zustellung e...