I. Zweck.
Rn 56
Die durch das JuMoG v 24.8.04 eingeführten Vorschriften, die bislang in der gerichtlichen Praxis keine Bedeutung erlangt haben, sollen nach dem Willen des Gesetzgebers (BTDrs 15/1508, 12 ff) den Zivilprozess beschleunigen und effektiver gestalten sowie die Parteiherrschaft verstärken (krit dazu mit Recht Knauer/Wolf NJW 04, 2857, 2862; Völzmann-Stickelbrock ZZP 118, 359, 377 ff). Soweit die Parteien ihr Einverständnis erklärt haben, entbinden diese Vorschriften das Gericht von dem in S 1 vorgeschriebenen Strengbeweis und lassen den Freibeweis über seinen herkömmlichen Anwendungsbereich (Rn 20) hinaus auf alle Tatsachen zu. Das Gericht kann also sämtliche Beweise ›in der ihm geeignet erscheinenden Art‹ (vgl die Beispiele Rn 19) aufnehmen und ist insb nicht an die Grundsätze über die Unmittelbarkeit und Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme (§§ 355, 357) gebunden. Abgesehen von diesen Besonderheiten gelten aber auch hier die allgemeinen Voraussetzungen für eine Beweisaufnahme (Beweisantritt, Beweisanordnung usw). Namentlich muss auch beim Freibeweis die volle Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit der zu beweisenden Tatsache begründet werden (BGH NJW 08, 1531, 1533 [BGH 28.11.2007 - XII ZB 217/05]; LG Saarbr NJW-RR 10, 496, 497 [LG Saarbrücken 18.12.2009 - 13 S 111/09]). Die systematische Stellung von S 1 (Strengbeweis grds bei jeder Beweiserhebung) zu S 2 und 3 (Ausnahmen nur mit Einverständnis der Parteien) lässt iÜ durchaus die Auslegung zu, dass nunmehr die Zulässigkeit des Freibeweises generell, dh auch in seinem herkömmlichen Anwendungsbereich (Rn 20), vom Einverständnis der Parteien abhängig ist (St/J/Thole Rz 93; Zö/Greger Rz 1b; Knauer/Wolf NJW 04, 2857, 2862; Musielak FG Vollkommer, 06, 237, 248; Reißmann JR 12, 182, 186; aA aber BGH NJW 08, 1531, 1533 [BGH 28.11.2007 - XII ZB 217/05]; ferner MüKoZPO/Prütting Rz 27; Fölsch MDR 04, 1029, die an der bisherigen Handhabung festhalten wollen).
II. Einverständnis der Parteien.
Rn 57
Für die Zulässigkeit des Freibeweises ist das Einverständnis beider Parteien erforderlich. Als Prozesshandlung ist es unanfechtbar und bedingungsfeindlich. Seine Erteilung kann schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung erfolgen. Im Anwaltsprozess unterliegt das Einverständnis dem Anwaltszwang. Bei Streitgenossenschaft – auch bei einfacher – ist das Einverständnis aller Streitgenossen jedenfalls dann erforderlich, wenn die betreffende Beweisaufnahme für alle Streitgenossen relevant ist (St/J/Thole Rz 103). Nach S 3 kann das Einverständnis auf einzelne Beweiserhebungen beschränkt werden, etwa die ergänzende telefonische Befragung eines abwesenden Zeugen in der mündlichen Verhandlung oder die Verwertung des Protokolls einer Augenscheinseinnahme aus einem anderen Verfahren (BGH WuW 16, 290, 291 Rz 13). Soweit eine solche Beschränkung nicht erklärt wird, ist vom generellen Einverständnis auszugehen (Hk-ZPO/Saenger Rz 65). In der Praxis wird allerdings das generelle Einverständnis nur selten erklärt. Überhaupt ist die praktische Bedeutung der § 284 S 2–4 gering geblieben (ebenso Jäckel Rz 369). Selbst bei Einverständnis beider Parteien kann eine Beweisaufnahme im Wege des Freibeweises ermessensfehlerhaft sein, wenn nur durch einen Strengbeweis eine angemessene Aufklärung des Sachverhalts zu erwarten ist. Steht etwa Aussage gegen Aussage, wird eine telefonische Zeugenvernehmung regelmäßig ausscheiden (zutr LG Saarbr NJW-RR 10, 496, 497 [LG Saarbrücken 18.12.2009 - 13 S 111/09]).
III. Widerruf des Einverständnisses.
Rn 58
Das Einverständnis kann nach S 4 nur bis zum Beginn der Beweiserhebung, auf die sie sich bezieht, widerrufen werden. Damit soll verhindert werden, dass der Widerruf erst erfolgt, wenn die Beweiserhebung bereits begonnen und sich zuungunsten einer Partei entwickelt hat (BTDrs 15/3482, 17). Ferner ist der Widerruf nur möglich bei einer wesentlichen Änderung der Prozesslage. Dies setzt voraus, dass sich zwischen Einverständniserklärung und Widerruf das Interesse der Partei an der vereinfachten Beweiserhebung durch objektiv vorliegende Umstände weggefallen ist. Zu denken ist etwa daran, dass zwischenzeitlich neue Erkenntnisse aufgetaucht sind, die gegen die Glaubwürdigkeit eines telefonisch zu befragenden Zeugen sprechen (vgl St/J/Thole Rz 106). Ist der Widerruf wirksam, muss die Beweisaufnahme wiederum nach den Regeln des Strengbeweises erfolgen.