Rn 73
Die Rspr hat eine Reihe von Fallgruppen entwickelt, in denen für bestimmte Tatbestandsmerkmale eine Beweislastumkehr angenommen wird. Sie können jedoch nicht alle als echte Beweislastumkehr im hier verstandenen Sinne anerkannt werden. Im Einzelnen gilt Folgendes:
a) Produzentenhaftung.
Rn 74
Seit der Entscheidung des BGH im Hühnerpestfall (BGHZ 51, 91 ff = NJW 69, 269 mit Anm Diederichsen) kehrt die Rspr entgegen dem Wortlaut von § 823 I BGB die objektive Beweislast für das Verschulden des Warenherstellers um, wenn bei bestimmungsgemäßer Verwendung eines Industrieerzeugnisses eine Person oder eine Sache dadurch geschädigt wird, dass das Produkt fehlerhaft hergestellt war. Es handelt sich um echte Umkehr der objektiven Beweislast mit der Folge, dass der Hersteller generell den vollen (Haupt)beweis dafür zu erbringen hat, dass ihm hinsichtlich des Fehlers kein Verschulden trifft. Die Beweislastumkehr erfasst sowohl die subjektive Vorwerfbarkeit als auch die objektive Pflichtverletzung (BGH NJW 99, 1028, 1029; Baumgärtel/Katzenmeier Bd 3 § 823 Anh III Rz 64 mwN). Der BGH hat seine Rspr anhand von Fabrikationsfehlern entwickelt, sie greift aber auch ein bei Konstruktions-, Instruktions- und Produktbeobachtungsfehlern. Sie gilt ferner für Kleinbetriebe (BGHZ 116, 104, 109 ff = NJW 92, 1039 ff) sowie für leitende Angestellte und Organe des haftenden Herstellers (BGH NJW 75, 1827, 1828 [BGH 03.06.1975 - VI ZR 192/73]). Für diese Rechtsfortbildung zieht der BGH eine Reihe von Sachgründen heran, ua den Gedanken des Gefahrenbereichs und eine Analogie zu § 836 BGB. Letztlich führt diese Beweislastumkehr zu einer Art Gefährdungshaftung des Warenherstellers und damit zu einer ›Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel‹ (Stoll AcP 176, 145). Im Ergebnis handelt es sich um eine durchaus gelungene Rechtsfortbildung, die inzwischen als Gewohnheitsrecht anzusehen ist.
b) Arzthaftung.
Rn 75
Der Patient trägt zunächst die Beweislast für das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers, wobei ihm im Einzelfall Beweiserleichterungen in Form des Anscheinsbeweises zugutekommen können (Müller NJW 97, 3049, 3052; s dazu auch oben Rn 42). Erforderlich ist insoweit der Nachweis, dass der Arzt einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGHZ 172, 1, 10 = NJW 07, 2767, 2769; MDR 12, 150; NJW 22, 2747 Rz 13 m abl Anm Mäsch). Ist ein grober Behandlungsfehler unstr oder bewiesen und war der Fehler generell geeignet, den eingetretenen Schaden zu verursachen, hat der BGH lange Zeit ›Beweiserleichterungen bis zur Beweislastumkehr‹ zugebilligt (BGHZ 85, 212, 216 = NJW 83, 333, 334; NJW 97, 796, 797; s.u. Rn 83). In neuerer Zeit hat er dann klargestellt, dass ein grober ärztlicher Behandlungsfehler regelmäßig zu einer Umkehr der objektiven Beweislast führt (BGHZ 159, 48, 53 ff = NJW 04, 2011, 2013; NJW 08, 1381, 1383; MDR 12, 966). Es reicht also nicht aus, dass der Arzt die bloße Möglichkeit der Nichtursächlichkeit seiner fehlerhaften Behandlung nachweist. Vielmehr trägt er die volle Beweislast dafür, dass sein Behandlungsfehler den Gesundheitsschaden beim Patienten nicht herbeigeführt hat.
Rn 76
Nach Einführung des § 630h V 1 BGB durch das Patientenrechtegesetz vom 20.2.13 (BGBl I 13, 277 ff) gilt die Beweislastumkehr nur noch für die deliktische Haftung des Arztes. Sie greift ferner nur ein im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität, dh bei der Frage, ob der Primärschaden durch den groben Behandlungsfehler verursacht worden ist (BGH NJW 08, 1381, 1382; vgl dazu auch BGH MDR 14, 154 f). Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Sekundärschaden eine typische Folge des Primärschadens ist (BGH NJW 14, 688, 690 Rz 32). Trotz Vorliegens eines groben Behandlungsfehlers kommt es nicht zu einer Umkehr der objektiven Beweislast, wenn der Eintritt des Primärschadens gerade auf Grund des konkreten Fehlers äußerst unwahrscheinlich ist (BGH NJW-RR 10, 833 f; NJW 12, 2653 Rz 6; Köln VersR 10, 117 f). Auch die Befunderhebung kann so eindeutig geboten sein, dass ihr Unterlassen einen groben Behandlungsfehler darstellen kann (BGH NJW 11, 3441 [BGH 13.09.2011 - VI ZR 144/10]; BGH MDR 14, 154 f [BGH 05.11.2013 - VI ZR 527/12]). Ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt, beurteilt sich zwar auf Grund einer juristischen Wertung, die allein der Richter vorzunehmen hat. Gleichwohl ist regelmäßig zum Zwecke der Bewertung des medizinischen Geschehens ein Sachverständigengutachten einzuholen (BGH NJW 08, 1381, 1383 [BGH 12.02.2008 - VI ZR 221/06]; 11, 2508 Rz 9; NJW 22, 2747 Rz 11 m abl Anm Mäsch). Keinesfalls darf das Gericht einen groben Behandlungsfehler entgegen den sachlichen Ausführungen des Sachverständigen bejahen (BGH VersR 09, 1406, 1408 Rz 11). Vielmehr muss die Bewertung eines Behandlungsfehlers als grob in den Ausführungen des Sachverständigen ihre tatsächliche Grundlage finden (BGHZ 144, 296, 304 = NJW 00, 2737, 2739). Trotz der berechtigten Kritik an dieser Rspr (vgl Foerste FS Deutsch...