Rn 19

Der Freiheit des Richters bei der Beweiswürdigung entspricht die Pflicht, diese Freiheit auch auszuschöpfen. Demgegenüber neigt die Praxis zuweilen dazu, diesen gesetzlich gewährten Freiraum durch die Bildung von zusätzlichen ›gewillkürten‹ Beweisregeln wieder einzuschränken (vgl dazu Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 4 Rz 18 ff). Bekannt und weit verbreitet war die sog ›Beifahrerrechtsprechung‹ der Instanzgerichte, wonach den Zeugenaussagen von Insassen unfallbeteiligter Kraftfahrzeuge generell nicht zu folgen ist, wenn nicht andere objektive Anhaltspunkte für deren Richtigkeit sprechen (vgl zB LG Köln NZV 88, 28 f; AG München NJW 87, 1425 [AG München 11.11.1986 - 28 C 3374/86] m Anm Putzo). Der BGH hat darin zu Recht einen Verstoß gegen § 286 I gesehen, weil es nicht auf eine individuelle Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlung geht, sondern um die Anwendung einer abstrakten Beweisregel, die das Gesetz nicht kennt (BGH NJW 88, 566 [BGH 03.11.1987 - VI ZR 95/87] mit zust Anm Walter; ebenso BGH NJW 95, 955, 956; KG MDR 09, 680; vgl auch Bambg MDR 04, 647, 648: kein Erfahrungssatz dafür, dass ein vorbestrafter Zeuge unglaubwürdig ist; krit aber Foerste NJW 01, 321, 322f). Ebenso wenig können Aussagen von Personen, die am Prozessausgang wirtschaftlich interessiert sind, von vornherein als parteiisch oder unzuverlässig eingeordnet werden (BGH NJW 95, 955 [BGH 18.01.1995 - VIII ZR 23/94]). Eine weitere ungeschriebene, aber weit verbreitete Beweisregel lautet etwa wie folgt: ›Einem Zeugen ist zu glauben, wenn nicht ganz gewichtige Gründe gegen seine Zuverlässigkeit sprechen und sich diese Gründe auch in das Urt schreiben lassen‹ (grdl Reinecke MDR 86, 630; vgl auch Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 4 Rz 20; Einmahl NJW 01, 469, 473; Kirchhoff MDR 10, 791, 792). Es bedarf keiner Begründung, dass sich eine derartige pauschale Würdigung ebenfalls nicht mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung vereinbaren lässt (MüKoZPO/Prütting Rz 26).

 

Rn 20

Dies kann allerdings nicht bedeuten, dass nicht eine typisierende Beweiswürdigung in gewissen Grenzen zulässig oder gar geboten wäre (Foerste NJW 01, 321, 323 ff). Als notwendiger Bestandteil jeder Überzeugungsbildung können das Erfahrungswissen sowie das Judiz des erkennenden Richters ohne weiteres dazu führen, manchen Personengruppen mehr zu misstrauen bzw zu vertrauen. Im Rahmen einer konkreten und individuellen Beweiswürdigung ist eben auch der Umstand zu berücksichtigen, dass bei Beifahrern – die oft mit der jeweiligen Partei verwandt oder befreundet sind – nach der Lebenserfahrung die Wahrscheinlichkeit einer Falschaussage größer ist als bei anderen Zeugen (ebenso Jäckel Rz 725; Lange NJW 02, 476, 481). Gegenüber den Angaben eines neutralen Zeugen kann ihre – gegenteilige – Aussage regelmäßig nicht zu einem non liquet führen. Auf der anderen Seite wird den Aussagen von Polizeibeamten in der Praxis im Allgemeinen ein hoher Beweiswert beigemessen, weil sie schon kraft ihres Berufes zu besonders sorgfältiger und objektiver Beobachtung verpflichtet sind (Karlsr VersR 77, 937). Auch einer Bankquittung kommt üblicherweise im Hinblick auf das von den Banken regelmäßig eingesetzte qualifizierte Personal und die vorhandenen organisatorischen Kontrollmaßnahmen ein erhöhter Beweiswert zu (Köln NJW 93, 3079, 3080).

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