I. Einführung.
Rn 23
Während die Beweiswürdigung die Frage beantwortet, ob ein Beweis im konkreten Fall geführt ist, gibt das Beweismaß generell an, wann ein Beweis gelungen ist (Rn 4). Es bestimmt also den Grad der Gewissheit, der erreicht sein muss, um von der Wahrheit einer zu beweisenden Tatsache ausgehen zu dürfen (vgl BGHZ 53, 245, 256 = NJW 70, 946, 948). Das richtige Beweismaß ist als Rechtsfrage von der Beweiswürdigung als reine Tatfrage streng zu trennen (Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 5 Rz 2 mwN). Im Interesse der Vorhersehbarkeit und damit der Rechtssicherheit muss das Beweismaß rechtssatzmäßig bestimmt sein, dh es bedarf grds einer abstrakt-generellen Regelung (Katzenmeier ZZP 117, 187, 189). Der Richter ist deshalb daran gehindert, das Beweismaß im konkreten Einzelfall selbst zu bestimmen (zutr LG Lübeck MDR 14, 1329, 1330; aA ua R/S/G § 114 Rz 15). Allein die Frage, ob das abstrakt festgelegte Beweismaß im konkreten Fall erreicht ist, unterliegt der Beurteilung durch den Richter. Aus der Abstraktheit des Beweismaßes folgt ferner, dass es der Parteidisposition entzogen ist (Rn 108). Die Unterscheidung zwischen abstraktem Beweismaß und dem im konkreten Fall erreichten Beweismaß hat ferner Bedeutung für die Revisibilität einer Entscheidung, weil die Tatsachenfeststellung – anders als die Bestimmung des abstrakten Beweismaßes – vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbar ist (Rn 22). Da es sich bei den Vorschriften, die das Beweismaß regeln, um Normen des Prozessrechts handelt, richtet sich das Beweismaß in Fällen mit Auslandsberührung nach der lex fori (EuGH NJW 17, 2739, 2740 Rz 25 m Anm Bomsdorf/Seehawer; BGH WM 77, 793, 794; LG Karlsruhe NJW-RR 21, 157, 158 Rz 45 mwN auch zur Gegenmeinung).
II. Das Regelbeweismaß.
Rn 24
Lange Zeit war die Frage, ob der Richter seiner Überzeugung eine sehr hohe oder lediglich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit zugrunde legen muss, äußerst umstr. Unter dem Einfluss des anglo-amerikanischen und des skandinavischen Rechts sind die Befürworter des sog Überwiegensprinzips davon ausgegangen, dass eine Tatsache schon dann als bewiesen gelten kann, wenn ihr Vorliegen wahrscheinlicher ist als ihr Nichtvorliegen (Kegel FG Kronstein, 67, 321 ff; Motsch S 37 ff; nunmehr auch Schweizer S 486 ff; einschr Effer-Uhe ZZP 133, 339, 352 ff; weitere Nachweise bei Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 5 Rz 8). Diese Lehre hat sich zu Recht nicht durchsetzen können (vgl BGH NJW 98, 1870 [BGH 09.02.1998 - II ZB 15/97]; NJW 12, 850 [BGH 07.02.2012 - VI ZR 63/11] Rz 10; Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 5 Rz 10 ff mwN). Gegen sie spricht bereits der Wortlaut des § 286 I, wonach für die Überzeugungsbildung entscheidend darauf abzustellen ist, ob eine tatsächliche Behauptung ›für wahr oder nicht für wahr zu erachten sei‹ und nicht, ob eine Behauptung wahrscheinlich wahr oder wahrscheinlicher ist als eine andere. Damit stellt der Gesetzgeber als Regelbeweismaß auf die volle Überzeugung von der Wahrheit ab. Auch der Gegensatz zwischen § 286 I einerseits und § 287 sowie § 294 andererseits lässt sich nur damit erklären, dass der Richter nach dem Willen des Gesetzgebers im Normalfall nicht schon die Tatsachen seiner Entscheidung zugrunde lagen darf, für deren Richtigkeit nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht (MüKoZPO/Prütting Rz 36). Nur so lassen sich auch die zahlreichen Normen erklären, die in Abweichung von diesem Regelbeweismaß die Anforderungen an dieses Beweismaß absenken (vgl die Aufstellung bei Prütting S 80 ff; s ferner unten Rn 25). Das Überwiegensprinzip würde zudem das gesetzliche System der Beweislastverteilung weitgehend verdrängen und damit den Gerechtigkeitswert von Beweislastregeln (dazu Katzenmeier ZZP 117, 187, 213) außer Acht lassen. Auf der anderen Seite erfordert die Überzeugung keine mathematische, jeden Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewissheit, weil eine solche ohnehin nicht zu erreichen ist (BGH NJW 98, 2969, 2971 [BGH 18.06.1998 - IX ZR 311/95]). Für eine behauptete Tatsache muss deshalb mit der ganz hM (Hk-ZPO/Saenger Rz 13; St/J/Thole Rz 4 ff mwN) eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit sprechen, damit der Richter sie für wahr erachten und seiner Entscheidung zugrunde legen kann (sog Vollbeweis, s § 284 Rn 16).
III. Beweismaßsenkung.
Rn 25
In einer Vielzahl von Fällen weicht das Gesetz vom Regelbeweismaß ab und begnügt sich mit einem geringeren Grad an richterlicher Überzeugung. Dazu gehören zunächst sämtliche Vorschriften, in denen das Gesetz die bloße Glaubhaftmachung einer behaupteten Tatsache ausdrücklich erlaubt oder gar vorschreibt (s die Aufstellung § 294 Rn 1). Bei ihnen reicht die überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der jeweils behaupteten Tatsache aus (BVerfGE 38, 35, 39 [BVerfG 02.07.1974 - 2 BvR 32/74]; BGH NJW 02, 1429, 1430 [BGH 17.01.2002 - VII ZB 32/01]; MDR 11, 68 [BGH 21.10.2010 - V ZB 210/09]). Ferner gibt es zahlreiche Vorschriften, die zwar keine Glaubhaftmachung vorsehen, aber durch ihren Wortlaut die Anforderungen an die richterliche Überzeugung absenken, etwa § 252 S 2...