Rn 57

Gelingt es dem Gericht trotz Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen nicht, die nach § 286 I erforderliche Gewissheit für das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer entscheidungserheblichen streitigen Tatsache zu gewinnen, ist es gleichwohl im Hinblick auf den verfassungsrechtlich verankerten Justizgewährungsanspruch (s dazu R/S/G § 3 Rz 1 ff) gezwungen, in der Sache selbst zu entscheiden. Dies geschieht mit Hilfe der Regeln über die Beweislast. Sie geben dem Richter ein methodisches Instrument in die Hand, um trotz eines non liquets in der Tatfrage eine Sachentscheidung treffen zu können. Die Anwendung der Beweislastregeln kommt dabei nur als ultima ratio in Betracht, dh sie können erst eingreifen, wenn alle zulässigen Beweismittel ausgeschöpft sind und weitere Feststellungen nicht mehr möglich erscheinen (vgl BGH NJW 85, 497, 498 [BGH 17.10.1984 - VIII ZR 181/83] = JR 85, 243, 244 mit Anm Baumgärtel; BGH MDR 19, 628 Rz 19 = Bespr Laumen MDR 19, 977 f [BGH 07.02.2019 - VII ZR 274/17]; BFH NJW 11, 2687 [BFH 23.03.2011 - X R 44/09]). Abgesehen von der speziellen Norm des § 293 (s dazu § 293 Rn 1 ff) hat die Beweislast und ihre Verteilung ausschließlich Bedeutung für die Tatfrage, dh für den Sachverhalt, der unter ein Tatbestandsmerkmal subsumiert werden kann (BGH NJW 73, 2207, 2208 [BGH 05.10.1973 - V ZR 163/71]). Bei der Auslegung von Normen und Willenserklärungen können Beweislastgrundsätze nur Bedeutung erlangen für die Feststellung von Tatsachen, die für eine bestimmte Auslegung maßgebend sein können (BGH NJW 84, 721, 722 [BGH 26.10.1983 - IVa ZR 80/82]). Die Beweislast ist aber nicht nur Hilfsmittel für das Gericht im Falle eines non liquets, sie beeinflusst bereits das vorprozessuale Verhalten der Parteien, etwa für die Frage, welche Beweismittel gesichert werden sollen oder ob im Hinblick auf ein bestimmtes Beweisrisiko überhaupt ein Verfahren eingeleitet werden soll. Während des Prozesses bestimmt die Verteilung der Beweislast, welche Partei welche Tatsachen vortragen muss, ob überhaupt Beweis erhoben wird und wer den Beweis antreten muss. Da sie auf diese Weise praktisch das gesamte Prozessgefüge strukturiert, kann davon gesprochen werden, dass die Beweislast das ›Rückgrat des Prozesses‹ bildet (Rosenberg S 61).

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