Rn 29

Es besteht heute Einigkeit darüber, dass der Anscheinsbeweis keinen Einfluss auf die Verteilung der objektiven Beweislast hat. Während die Anwendung von Beweislastnormen das Vorliegen eines non liquet zur Voraussetzung hat, soll der Anscheinsbeweis eine Beweislastentscheidung gerade verhindern. Abzulehnen ist auch die Auffassung, der Anscheinsbeweis sei dem materiellen Recht zuzuordnen, weil hinter ihm eine materiell-rechtliche Risikozuordnung stehe (so aber Zö/Greger vor § 284 Rz 29a). Dies widerspricht der engen methodischen Nähe des Anscheinsbeweises zum Indizienbeweis iRd richterlichen Beweiswürdigung (MüKoZPO/Prütting Rz 56). Der Anscheinsbeweis stellt sich vielmehr als Beweiswürdigungsregel dar, die den Richter berechtigt und verpflichtet, die durch Erfahrungssätze begründete Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer behaupteten Tatsache zur Überzeugungsbildung und damit zum Beweis ausreichen zu lassen. Es geht also um die konsequente Berücksichtigung des bestehenden Erfahrungswissens iRd freien Beweiswürdigung. Terminologisch wäre es deshalb sachgerechter, von einer Beweiswürdigung auf Grund des ersten Anscheins zu sprechen (Schneider Beweis Rz 323). Entgegen einer verbreiteten Auffassung (Musielak/Voit/Foerste Rz 24; weitere Nachw bei Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 17 Rz 8 Fn 33) führt der Anscheinsbeweis nicht zu einer Reduzierung des Beweismaßes. Die beim Anscheinsbeweis anzuwendenden Erfahrungssätze müssen vielmehr geeignet sein, die volle Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung zu begründen (BGHZ 100, 31, 33 = NJW 87, 2876; BGH MDR 06, 502, 503; St/J/Thole Rz 222; R/S/G § 114 Rz 16). Davon zu trennen ist die Frage, ob die anzuwendenden materiell-rechtlichen Normen nach ihrem Sinn und Zweck – wie häufig beim Beweis der Kausalität – eine Reduzierung des Beweismaßes verlangen. Als Beweiswürdigungsregel ist der Anscheinsbeweis prozessrechtlicher Natur und unterliegt deshalb in Prozessen mit internationalen Bezügen der lex fori (BGH NJW 85, 554; LG Saarbrücken NJW 15, 2823, 2824; DAR 16, 145; MüKoZPO/Prütting Rz 52; Thole IPrax 10, 285, 286 f; aA ua AG Geldern NJW 11, 686, 687; Zö/Greger Vor § 284 Rz 29a mwN; Staudinger NJW 11, 650, 651f).

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