Rn 4
Das Ziel der freien Beweiswürdigung ist die Überzeugung des Gerichts vom Vorliegen einer entscheidungserheblichen Tatsache. Welche Anforderungen an diese Überzeugung zu stellen sind, ist in erster Linie eine Frage des erforderlichen Beweismaßes. Während das Beweismaß regelt, wann ein Beweis gelungen ist, bestimmt die Beweiswürdigung, ob ein Beweis gelungen ist, dh der Richter im konkreten Fall eine bestimmte Behauptung als bewiesen ansehen darf (MüKoZPO/Prütting Rz 28). Nach der ständigen Rspr des BGH erfordert die richterliche Überzeugung keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (grundlegend BGHZ 53, 245, 256 = NJW 70, 946, 948 – Anastasia; BGH NJW 20, 3176, 3177 Rz 13; ebenso BVerfG NJW 22, 3774, 3776 [BVerfG 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20] Rz 50; BAGE 85, 140, 154 = NZA 97, 705, 708 [BAG 19.02.1997 - 5 AZR 747/93]). Der BGH betont damit das subjektive Element iSd persönlichen Überzeugung des Richters als maßgebliches Kriterium. Gleichzeitig stellt er aber auch zu Recht klar, dass die richterliche Überzeugung nicht mit der rein persönlichen Gewissheit gleichgesetzt werden darf (BGH NJW-RR 94, 567 [BGH 14.12.1993 - VI ZR 221/92]). Stellt man allein auf die persönliche Überzeugung des Richters ab, könnte die Sachverhaltsfeststellung zufällig und willkürlich getroffen werden mit der Folge, dass ein objektiv gleiches Beweisergebnis in zwei verschiedenen Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen könnte. Zum Merkmal der persönlichen Überzeugung muss deshalb eine objektive Bezugsgröße – die objektive Wahrheit als idealer Bezugspunkt der Tatsachenermittlung – hinzukommen (Walter S 150). Der Zweck des Zivilprozesses – die Herbeiführung einer der materiellen Rechtslage gerecht werdenden Entscheidung – kann nur erreicht werden, wenn die Sachverhaltsfeststellung der Wahrheit möglichst nahe kommt. Allein sachgerecht ist deshalb eine Kombination von subjektiven und objektiven Faktoren (ganz hM, vgl MüKoZPO/Prütting Rz 11, 19; Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 4 Rz 38; Katzenmeier ZZP 117, 187, 195, jeweils mwN). Die Basis, um zu einer der Wahrheit möglichst nahe kommenden Sachverhaltsfeststellung zu gelangen, bietet dabei die Wahrscheinlichkeit eines Geschehens. Wie hoch der Wahrscheinlichkeitsgrad sein muss, um eine genügende objektive Basis für die Überzeugungsbildung darstellen zu können, ist eine Frage des gesetzlich vorgeschriebenen Beweismaßes (Rn 23 ff).