Rn 25

In einer Vielzahl von Fällen weicht das Gesetz vom Regelbeweismaß ab und begnügt sich mit einem geringeren Grad an richterlicher Überzeugung. Dazu gehören zunächst sämtliche Vorschriften, in denen das Gesetz die bloße Glaubhaftmachung einer behaupteten Tatsache ausdrücklich erlaubt oder gar vorschreibt (s die Aufstellung § 294 Rn 1). Bei ihnen reicht die überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der jeweils behaupteten Tatsache aus (BVerfGE 38, 35, 39 [BVerfG 02.07.1974 - 2 BvR 32/74]; BGH NJW 02, 1429, 1430 [BGH 17.01.2002 - VII ZB 32/01]; MDR 11, 68 [BGH 21.10.2010 - V ZB 210/09]). Ferner gibt es zahlreiche Vorschriften, die zwar keine Glaubhaftmachung vorsehen, aber durch ihren Wortlaut die Anforderungen an die richterliche Überzeugung absenken, etwa § 252 S 2 BGB (›mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte‹), § 651b II 2 BGB (›wenn der Anschein begründet wird‹); § 844 II BGB (›mutmaßliche Lebensdauer‹), § 22 AGG (›vermuten lassen‹) oder § 375 I und I a (›wenn … anzunehmen ist‹). Das Gleiche gilt für alle Normen, die dem Richter die Befugnis zur Schätzung einräumen, zB § 3 (Streitwertfestsetzung nach Ermessen) und § 287 (s ausf § 287 Rn 19) oder die Bestimmung eines Betrages nach Billigkeitsgesichtspunkten zulassen (§§ 315 III 2, 319 I, 829, 2048 S 3 BGB). Vom Erfordernis des Vollbeweises sieht auch § 283a ab, indem für eine Sicherungsanordnung verlangt wird, dass die Klage ›hohe Aussicht auf Erfolg‹ hat (vgl MüKoZPO/Prütting Rz 49).

 

Rn 26

Darüber hinaus kann eine Senkung des abstrakt und normativ festgelegten Regelbeweismaßes über die gesetzlich vorgesehenen Fälle hinaus in engen Grenzen auch durch eine richterrechtliche Rechtsfortbildung erfolgen (Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 5 Rz 15 f mwN; aA Zö/Greger Rz 20, der das Beweismaß für unabänderbar hält). Im Hinblick auf den normativen Charakter des Regelbeweismaßes muss eine solche Rechtsfortbildung auf Ausnahmefälle beschränkt werden, in denen eine Abweichung aus zwingenden, typischerweise vorliegenden Gründen geboten ist. Davon ist insb dann auszugehen, wenn die Verwirklichung einer Anspruchsnorm generell nur durch eine derartige Beweiserleichterung erreicht werden kann, die Anspruchsnorm also ohne eine Beweismaßsenkung leerlaufen würde (Baumgärtel FS 600 Jahre Universität Köln, 88, 165, 177, 180). Als Beispiel für eine gelungene Rechtsfortbildung idS kann zB der Beweis für das äußere Bild gelten (näher Rn 53 ff). Beim Nachweis der Kausalität in Haftungsfällen werden ebenfalls aus Gründen des materiellen Rechts häufig geringere Anforderungen an das Beweismaß zu stellen sein, weil ansonsten entsprechende Ansprüche vielfach kaum durchsetzbar sein dürften (MüKoZPO/Prütting Rz 48; Walter S 195 f, 201). Entgegen einer verbreiteten Auffassung ist mit der Anwendung des Anscheinsbeweises dagegen keine Beweismaßsenkung verbunden (Rn 29).

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