1. Gesamter Inhalt der Verhandlung.
Rn 5
Gegenstand der Beweiswürdigung sind zunächst alle entscheidungserheblichen Tatsachen einschließlich der negativen Tatsachen (Rn 69) sowie der inneren Tatsachen wie Wille, Vorsatz oder Kenntnis (§ 284 Rn 7). Voraussetzung ist dabei stets, dass sie unstr, zugestanden oder vom Gericht als bewiesen angesehen werden. Bei den Indiztatsachen, mit deren Hilfe üblicherweise solche inneren Tatsachen bewiesen werden können, ist zusätzlich zu prüfen, ob sie (ggf mit anderen Indizien) den Schluss auf die jeweilige Haupttatsache zulassen (s dazu Rn 51 ff). In die Beweiswürdigung einzubeziehen sind ferner Erfahrungssätze, die auf einer allgemeinen Lebenserfahrung oder besonderer Fach- oder Sachkunde des Gerichts oder eines Sachverständigen beruhen (§ 284 Rn 11). Von der Beweiswürdigung ausgenommen sind dagegen sämtliche Rechtsnormen. Das Gericht hat sie zu kennen (iura novit curia) und unabhängig von entsprechendem Parteivorbringen ggf vAw zu ermitteln. Eine Ausnahme machen nur die in § 293 genannten Rechtssätze.
Rn 6
Gegenstand der Beweiswürdigung ist aber nicht nur das Ergebnis einer Beweisaufnahme, sondern nach dem Wortlaut des § 286 I 1 der ›gesamte Inhalt der Verhandlungen‹, dh der gesamte Tatsachenstoff, von dem der Richter im Laufe des Verfahrens in prozessordnungsgemäßer Weise Kenntnis erlangt hat (BAG NJW 22, 415, 420 [BAG 24.06.2021 - 5 AZR 505/20] Rz 41; MüKoZPO/Prütting Rz 7). Zu denken ist etwa an Eigentümlichkeiten im Verhalten der Parteien oder sonstigen Prozessbeteiligten, widersprüchlicher (BGH NJW-RR 12, 728, 729) oder ständig wechselnder Sachvortrag (BGH NJW 02, 1276, 1277), die Ergebnisse einer Parteianhörung gem § 141 (BVerfG NJW 17, 3218, 3220 Rz 58; BGHZ 235, 239, 247 Rz 19 = NJW 23, 983, 984; KG MDR 17, 1144 = Bespr Laumen MDR 18, 15; s dazu ausf Kockentiedt/Windau NJW 19, 3348 ff), offensichtliche Verstöße gegen die Wahrheitspflicht, das Nichterscheinen im Termin trotz persönlicher Ladung gem § 141 II (Naumbg NJW 16, 1102, 1103), die Nichtbeantwortung von Fragen während der Anhörung oder der Widerruf eines Beweisangebotes. Auch das außerprozessuale Verhalten einer Partei – etwa in einem früheren Verfahren (Ddorf WRP 83, 499, 501) – kann, wenn es Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden. Zum Bestandteil der Beweiswürdigung kann es auch gehören, dass ein Zeuge seine Aussage verweigert (vgl Hamm VersR 83, 870, 871; dies gilt ggf auch bei einer Aussageverweigerung nach § 384 Nr 2, vgl München NJW 11, 80, 81 [OLG München 10.11.2009 - 5 U 5130/08] m zust Anm Helling), dass eine Partei einen Zeugen nicht von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit befreit, eine Parteivernehmung ablehnt (§§ 446, 447) oder zum Vernehmungstermin trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erscheint (§ 454 I). Hat das Gericht den Gegenbeweis erhoben, obwohl der Hauptbeweis noch gar nicht geführt war (vgl § 284 Rn 14), muss es das Ergebnis des Gegenbeweises ebenfalls in seine Beweiswürdigung einbeziehen (Zö/Greger Rz 2). Treten bei einer Beweisaufnahme Umstände zu Tage, die von keiner Partei behauptet worden sind, müssen auch sie bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden, weil davon auszugehen ist, dass die dadurch begünstigte Partei sich diese Umstände stillschweigend hilfsweise zu Eigen macht (BGH NJW 15, 2125, 2126 [BGH 24.03.2015 - VI ZR 179/13] Rz 17; MDR 17, 1420 [BGH 26.09.2017 - VI ZR 529/16] Rz 9). Verstößt das Gericht gegen diesen Grundsatz, kann darin eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegen (BGH MDR 10, 227 [BGH 10.11.2009 - VI ZR 325/08]; NJW-RR 18, 1287, 1288 [BGH 29.08.2018 - VII ZR 195/14] Rz 13). Bestehen Zweifel, ob sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zutage tretenden ihr günstigen Umstände hilfsweise zu Eigen macht, müssen diese durch Befragung (§ 139) beseitigt werden, denn Tatsachen, die von keiner Partei behauptet worden sind, dürfen nicht verwertet werden (BGH NJW-RR 90, 518 [BGH 24.01.1990 - VIII ZR 296/88]). Bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen ist schließlich die Beweisvereitelung durch eine Partei (s näher Rn 99 ff).
2. Privates und amtliches Wissen.
Rn 7
Privates Wissen (zB eigene Erfahrungen mit dem verklagten Unternehmen) darf der Richter schon im Hinblick auf § 41 Nr 5 nicht in seine Beweiswürdigung einfließen lassen, denn ein Richter kann nicht zugleich Zeuge sein. Dazu gehören auch Erkenntnisse aus einer privaten Besichtigung von relevanten örtlichen Gegebenheiten. Eine andere Beurteilung ist für allgemeinkundige Tatsachen und für Erfahrungssätze geboten (BGHZ 156, 250, 252 ff = NJW 04, 1163, 1164: Verständnis einer Werbeaussage in bestimmten Verkehrskreisen; vgl auch BGH NJW 22, 3638, 3640 [BGH 02.06.2022 - I ZR 93/21] Rz 21 ff). Sie müssen allerdings vor der Verwertung zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sein (§ 291 Rn 7). Zum amtlichen Wissen gehören insb gerichtskundige Tatsachen, dh Umstände, die dem erkennenden Gericht aus seiner jetzigen oder früheren amtlichen Tätigkeit bekannt geworden sind, also etwa die Prozess...