1. Bindung an Denk-, Naturgesetze und Erfahrungssätze.
Rn 11
Die Freiheit des Richters bei der Beweiswürdigung erfährt zunächst eine Einschränkung dadurch, dass er bei seiner Überzeugungsbildung an zwingende Denk-, Naturgesetze und Erfahrungssätze gebunden ist (BGHZ 160, 308, 317 = NJW 04, 3623, 3625; BGH NJW-RR 14, 1147, 1148; KG MDR 11, 447). Dazu gehören auch die Sätze der allgemeinen Lebenserfahrung (BGH MDR 02, 82, 83). Zu den Denkgesetzen rechnen va die Regeln der Logik. So liegt ein Verstoß gegen Denkgesetze vor, wenn das Gericht Indiztatsachen, die sich zwanglos mit dem gegensätzlichen Vorbringen beider Parteien vereinbaren lassen, nur für den Vortrag einer Partei für vereinbar hält, ihnen eine Indizwirkung beimisst, die sie nicht haben können (BGH NJW 93, 935, 938; BGHZ 232, 215, 227 Rz 36 = NJW 22, 1170, 1172 m Anm Feldhusen) oder das Gericht den Parteivortrag allenfalls seinem äußeren Wortlaut nach, nicht aber seinem Sinn nach erfasst hat (vgl BGH MDR 20, 56 Rz 12). Ebenso schließen gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse eine freie Beweiswürdigung aus. Das Gericht hat etwa im Verkehrsunfallprozess die physikalischen Gesetze der Bewegungsenergie, im Bauprozess diejenigen der Statik und im Vaterschaftsfeststellungsprozess die biologischen Vererbungsgesetze (BGHZ 21, 337, 338 = NJW 56, 1716 f) zu beachten. Eine Bindung besteht ferner auch an den allgemeinen Erfahrungssatz, dass Kraftfahrer bei einem Blutalkoholgehalt von 1,1 ‰ und mehr absolut fahruntüchtig sind (BGHSt 37, 89, 92 ff = NJW 90, 2393 ff; bestätigt von BVerfG NJW 95, 125 f).
2. Distanz gegenüber den Beweismitteln.
Rn 12
Das Gericht hat die erhobenen Beweise stets krit und sorgfältig zu würdigen, selbst wenn ihm im Einzelfall die Sachkunde zur Beurteilung einer entscheidungserheblichen Frage fehlt. So darf das Gericht die Ergebnisse eines Sachverständigengutachtens nicht ungeprüft übernehmen, sondern muss feststellen, ob der Sachverständige von der zutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen ist (BVerfG NJW 97, 1909, 1910; BGH NJW 10, 3230) und den Gutachtenauftrag zutreffend interpretiert hat. So reicht es auch nicht, dass das Gericht umfänglich aus dem Sachverständigengutachten zitiert und sich diesem dann – ohne dass eine kritische Prüfung erkennbar wird – in einem Satz anschließt. Die Prüfungspflicht bezieht sich ferner auf die vollständige Verwertung der vom Gericht vorgegebenen Anknüpfungs- und Befundtatsachen, die Gesetzmäßigkeit der Befunderhebung und die dem Gutachten zugrunde liegenden juristischen Vorstellungen (BGHZ 159, 254, 257 = NJW 04, 2828; München NJW 11, 3729, 3730 mwN). Teilt der Sachverständige die Tatsachengrundlage nicht mit, ist sein Gutachten nicht verwertbar (BGH NJW 01, 2795, 2796 [BGH 03.07.2001 - VI ZR 418/99]). Weist das Gutachten Widersprüche auf, hat das Gericht zur Klarstellung eine schriftliche Ergänzung des Gutachtens (BGH NJW 93, 1524, 1525 [BGH 19.01.1993 - VI ZR 60/92]; MDR 13, 868 [BGH 16.04.2013 - VI ZR 44/12]) einzuholen oder eine mündliche Erläuterung durch den Sachverständigen anzuordnen (BGH NJW 95, 779, 780 [BGH 27.09.1994 - VI ZR 284/93]). Verbleibende Unklarheiten und Zweifel muss das Gericht durch eine gezielte Befragung des Sachverständigen klären (BGH MDR 10, 1052, 1053 [BGH 06.07.2010 - VI ZR 198/09]). Führen diese Maßnahmen nicht zu einer Klarstellung, ist das Gericht mangels eigener Sachkunde gehalten, einen anderen Sachverständigen mit der Begutachtung zu beauftragen (BGH NJW 01, 1787, 1788 [BGH 16.01.2001 - VI ZR 408/99]; zur Einholung eines sog ›Obergutachtens‹ vgl Oldbg NJW 21, 244, 246 [BGH 26.05.2020 - VI ZR 321/19] Rz 40 sowie unten § 412 Rn 4).
Rn 12a
Ein Privatgutachten kann die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur entbehrlich machen, wenn das Gericht allein schon aufgrund dieses Parteivorbringens ohne Rechtsfehler zu einer zuverlässigen Beantwortung der Beweisfrage gelangen und ausschließen kann, dass ein gerichtliches Sachverständigengutachten zu einem anderen Ergebnis führt (BGH NJW 16, 2328, 2333 [BGH 09.06.2016 - IX ZR 314/14] Rz 78; Nürnbg MDR 21, 1534). Wird die Richtigkeit eines Privatgutachtens substanziiert bestritten, muss das Gericht ein gerichtliches Gutachten einholen, falls die beweisbelastete Partei es beantragt hat (BGH NJW-RR 03, 1328, 1330 [BGH 16.07.2003 - IV ZR 310/02]; Nürnbg NJW-RR 22, 112). Haben die Parteien sich widersprechende Privatgutachten kompetenter Fachleute vorgelegt, muss das Gericht ebenfalls versuchen, die Widersprüche durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen zu klären (BGH NJW 93, 2382, 2383 [BGH 11.05.1993 - VI ZR 243/92]). Widersprüchen zwischen einem gerichtlich eingeholten Gutachten und einem Privatgutachten muss das Gericht nachgehen (BVerfG NJW 97, 122, 123 [BVerfG 07.10.1996 - 1 BvR 520/95]; BGH NJW-RR 20, 186, 187; MDR 23, 1064 = Bespr Laumen MDR 23, 1225 [BGH 06.06.2023 - VI ZR 197/21]; ausf Ghassemi-Tabar/Nober NJW 16, 552). Das Gleiche gilt für Widersprüche zwischen den Angaben des gerichtlichen Sachverständigen im schriftlichen Gutachten und seinen Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung (B...