1. Berufung.
Rn 21
Die Überprüfung der Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht erfolgt nach Maßgabe des § 529 I 1. Danach ist es an die Beweiswürdigung der 1. Instanz gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (BGH NJW-RR 18, 651, 652 Rz 15). Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts beschränkt sich aber nicht darauf, ob die Tatsachenfeststellung verfahrensfehlerfrei erfolgt ist (BGHZ 160, 83, 92 f = NJW 04, 2751, 2753). Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich vielmehr auch aus der Möglichkeit von unterschiedlichen Bewertungen ergeben (BVerfG NJW 05, 1487 [BVerfG 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03]; BGH NJW-RR 21, 76, 77 [BGH 18.11.2020 - VIII ZR 123/20] Rz 23; MDR 23, 1331, 1332 Rz 16; dazu Manteuffel NJW 05, 2963 ff [BGH 09.03.2005 - VIII ZR 266/03]; Nassall NJW 23, 1470 ff; abl aber Unberath ZZP 120, 323, 338 ff im Hinblick auf die geänderte Funktion der Berufung nach der ZPO-Reform). Würdigt das Berufungsgericht ein Beweisergebnis anders als das erstinstanzliche Gericht, ist es nicht nur zu einer erneuten Tatsachenfeststellung berechtigt, sondern auch verpflichtet (BVerfG NJW 03, 2524 [BVerfG 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02]; BGH NJW 23, 3496, 3497 [BGH 08.08.2023 - VIII ZR 20/23] Rz 16). Zu den Einzelheiten § 529 Rn 13 f. Nur diese Auslegung entspricht der Funktion des Berufungsgerichts als zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, dessen Aufgabe auch nach der Reform des Zivilprozesses von 2001 in der Gewinnung einer ›fehlerfreien und überzeugenden‹, dh der materiellen Rechtslage entsprechenden Entscheidung besteht (BTDrs 14/4722, 59 f). Dem Berufungsgericht steht es nach alledem also zB frei, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders zu beurteilen als das erstinstanzliche Gericht. Es muss dann aber grds die Vernehmung des Zeugen wiederholen (BVerfG NJW 11, 49, 50 [BVerfG 14.09.2010 - 2 BvR 2638/09]; BGH NJW-RR 18, 651 [BGH 21.03.2018 - VII ZR 170/17] Rz 15; 23, 700 Rz 7; s dazu näher § 398 Rn 3). Das Gleiche gilt, wenn das Beweisergebnis aus anderen Gründen für das erstinstanzliche Gericht nicht verwertbar gewesen ist (BGH NJW 00, 2024, 2025 [BGH 15.03.2000 - VIII ZR 31/99] – Verstoß gegen § 355). Es ist selbst dann nicht an die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen durch das erstinstanzliche Gericht gebunden, wenn der Zeuge zwischenzeitlich verstorben oder seine Vernehmung aus anderen Gründen nicht mehr möglich ist (BGH MDR 16, 1404, 1405 [BGH 16.08.2016 - X ZR 96/14] Rz 29 = Bespr Laumen MDR 17, 16 f). Ferner bedarf es auch einer erneuten Anhörung eines Sachverständigen, wenn das Berufungsgericht dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will (BGH MDR 23, 454, 455 [BGH 19.10.2022 - XII ZR 97/21] Rz 42; NJW 24, 286, 287 [BGH 18.07.2023 - VI ZR 126/21] Rz 6 ff). Das Gleiche gilt für eine formlose Parteianhörung dann, wenn die Angaben der Partei in die Beweiswürdigung des Erstgerichts eingeflossen und dort in ihrer Glaubhaftigkeit bewertet worden sind (BGH NJW-RR 23, 636, 637 [BGH 25.10.2022 - VI ZR 382/21] Rz 12). Bei besonders schweren Verstößen gegen § 286 I kann auch eine Aufhebung und Zurückverweisung an die erste Instanz in Betracht kommen (vgl KG MDR 15, 384 f). Haben die Angaben einer Partei im Rahmen einer Anhörung nach § 141 ZPO Eingang in die Beweiswürdigung gefunden, kann das Berufungsgericht nicht ohne eigene Anhörung von der vorgenommenen Würdigung abweichen (BGH NJW 18, 2334, 2335 [BGH 25.04.2018 - XII ZB 155/17] Rz 11).
2. Revision.
Rn 22
Demgegenüber ist das Revisionsgericht an die Beweiswürdigung des Tatrichters gebunden, wenn sich nicht ein begründeter Revisionsangriff gerade gegen dessen tatsächliche Feststellungen richtet (§ 559 II). Nach der üblichen Formulierung ist das Revisionsgericht auf die Prüfung beschränkt, ob sich der Tatrichter mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Würdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (BGHZ 186, 96, 110 Rz 38 = NJW-RR 11, 270, 274; BGH MDR 13, 868, 869 mwN). Der revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegen daneben Verfahrensfehler im Zusammenhang mit der Anwendung des § 286. Überprüfbar ist danach zB, ob die Beweiskraft von Indizien richtig beurteilt worden sind (BGH NJW 93, 935, 938; krit dazu Zö/Greger Rz 25), die Ambivalenz von Indizien verkannt worden ist (BGHZ 232, 215, 227 Rz 36 = NJW 22, 1170, 1173), die Voraussetzungen eines Anscheinsbeweises vorliegen (BGH NJW 97, 2757, 2759 [BGH 23.01.1997 - I ZR 29/94]), ein Beweisantritt zu Unrecht übergangen worden ist (BGH NJW-RR 95, 722, 723 f [BGH 15.12.1994 - VII ZR 140/93]), das von § 286 geforderte Beweismaß eingehalten ist (BGH NJW 99, 486, 488), eine Begutachtung mangels Anknüpfungstatsachen zu Recht unterblieben ist (BGH NJW 99, 1860, 1861 [BGH 23.02.1...