Rn 33
Der Anscheinsbeweis war lange Zeit auf den Nachweis der Kausalität und des Verschuldens beschränkt. Inzwischen findet er aber auch bei vielen anderen Tatbestandsmerkmalen Anwendung (vgl die Übersicht bei Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 17 Rz 63 ff). Entscheidend ist jeweils, ob für den betreffenden Bereich genügend gesicherte Erfahrungssätze vorhanden sind, die den Schluss auf das Vorliegen eines bestimmten Tatbestandsmerkmals zulassen.
1. Haftungsbegründende Kausalität.
Rn 34
Im Wege des Anscheinsbeweises kann sowohl der Schluss von der Ursächlichkeit eines Fehlverhaltens auf den eingetretenen Schaden als auch der umgekehrte Schluss von bestimmten Schadensbildern auf eine typische Ursache gezogen werden (BGH NJW 97, 528, 529). So können die erlittenen Verletzungen eines Fahrzeuginsassen dem ersten Anschein nach dafür sprechen, dass er nicht angeschnallt gewesen ist (BGH NJW 91, 230, 231 [BGH 03.07.1990 - VI ZR 239/89]; 12, 2027). Steht fest oder ist – ggf durch einen Anscheinsbeweis – bewiesen, dass ein Fahrer entgegen § 21a I 1 StVO nicht angeschnallt war, greift ein Anscheinsbeweis dafür ein, dass bei einem Frontalzusammenstoß mit einer mittleren Aufprallgeschwindigkeit Verletzungen an Kopf und Brust vermieden worden wären, wenn der Sicherheitsgurt angelegt worden wäre (BGH VersR 81, 548; Naumb MDR 08, 1031). Dem Fahrer steht dann der Gegenbeweis offen, dass im konkreten Fall eine Gurtanlegepflicht nicht bestanden hat (BGH NJW 12, 2027 f [BGH 28.02.2012 - VI ZR 10/11]). Bei einem Verstoß gegen die durch § 21a StVO begründete Helmtragungspflicht kann ein Anscheinsbeweis dafür sprechen, dass erlittene Kopfverletzungen durch das Nichttragen des Helms verursacht worden sind (BGH NJW 83, 1380; ausf Scholten NJW 12, 2993, 2994; v. Pentz NZV 12, 124, 125 [BGH 13.12.2011 - VI ZR 177/10]). Bei der Verletzung von Schutzgesetzen kommt ein Anscheinsbeweis in Betracht, wenn im Zusammenhang mit dem Verstoß gerade derjenige Schaden eingetreten ist, der mit Hilfe des Schutzgesetzes verhindert werden sollte (BGH NJW-RR 86, 1350 – fehlender Handlauf bei einer Treppe; ebenso Köln VersR 92, 512, 513; BGH NJW 05, 2454 – Loch in der Pflasterung eines Gehweges; München SpuRt 18, 116, 118 Rz 67 – Unfall eines Gleitflugschülers). Das Gleiche gilt für die Verletzung von Unfallverhütungsvorschriften (BGH NJW 84, 360, 362 – Zusammenbruch eines nicht DIN-gerechten Gerüstes; BGH MDR 85, 42 – unzureichende Sicherung bei einer Kreissägemaschine; Stuttg NJW-RR 00, 752, 753 – unzureichende Fangbreite bei einem Baugerüst; Köln VersR 19, 105, 106 – unzureichende Sicherung einer Baugrube), von Verkehrssicherungspflichten (BGH NJW 01, 2019, 2020 [BGH 13.03.2001 - VI ZR 142/00] – Hörsturz durch überlauter Musik bei Rockkonzert; einschränkend Karlsr JZ 00, 789 [OLG Karlsruhe 30.03.2000 - 19 U 93/99] mit Anm Stadler/Bensching; BGH MDR 07, 258, 259 – mangelhafte Wasserrutsche in einer Hotelanlage; BGH NJW 08, 3775, 3777 – Salto auf Trampolin; dazu Wesser NJW 08, 3761 ff [BGH 03.06.2008 - VI ZR 223/07]; Frankf MDR 09, 263 [BGH 29.10.2008 - IV ZR 128/07] – fehlende Polsterung von Metallpfosten an der Talstation eines Skilifts; Hamm MDR 15, 588, 589 [BGH 24.02.2015 - VI ZR 106/13] – unzureichende Abdeckung von Versorgungsleitungen; LG Wiesbaden MDR 12, 1036 [LG Wiesbaden 12.01.2012 - 9 O 334/10] – Ausrutschen auf einer wasserbenetzten Stelle an einem Ständer mit Schnittblumen; Hamm NJW-RR 16, 505, 506 [BGH 11.11.2015 - XII ZB 407/12] Rz 13 – unzureichend gesicherter Einkaufswagen; Hamm NZV 16, 523 [OLG Hamm 18.12.2015 - 11 U 166/14] – unzureichende Griffigkeit eines Fahrbahnbelags; Karlsr MDR 17, 384 [OLG Karlsruhe 28.09.2016 - 7 U 196/15] – Sturz von einem Hochbett ohne vorgeschriebene Sicherung; Saarbr NJW 17, 2689, 2691 [OLG Saarbrücken 18.05.2017 - 4 U 146/16] Rz 26 – verkehrswidriger Zustand einer Straße; Schlesw NJW-RR 20, 18, 19 [OLG Brandenburg 30.10.2019 - 7 U 25/18] Rz 17 – Niveauunterschied eines Übergangs; Karlsr NJW-RR 21, 1321, 1322 [OLG Karlsruhe 11.05.2021 - 9 U 62/19] – Nässe in Kundentoilette eines Supermarktes) und von Aufsichtspflichten (KG NJW-RR 00, 242, 243 [KG Berlin 20.11.1998 - 25 U 8244/97] – Ertrinken eines Nichtschwimmers in einem Spaßbad; BGH NJW 18, 301, 304 [BGH 23.11.2017 - III ZR 60/16] Rz 31 – Ertrinken eines Kindes; es wird allerdings zu Unrecht von tatsächlicher Vermutung gesprochen; München NJW-RR 20, 88, 89 [OLG München 29.07.2019 - 21 U 2981/18] Rz 34 – Eigenverletzung eines Kindes durch Messer).
Rn 35
Ist die Fahrtüchtigkeit eines Fahrers infolge Alkoholeinflusses beeinträchtigt, so ist dies dem ersten Anschein nach ursächlich für einen zeitlich eng nachfolgenden Unfall, wenn ein nüchterner Fahrer die Verkehrssituation gemeistert hätte (BGH NJW 92, 119, 120 [BGH 09.10.1991 - IV ZR 264/90]; MDR 95, 959; vgl auch Köln NJOZ 03, 2308). Grds besteht auch ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Konsum von Cannabis ursächlich für einen nachfolgenden Unfall gewesen ist. Dieser Anscheinsbeweis ist aber erschüttert, wenn der Unfall auch für einen Idealfahre...